"Ohne klare Leitplanken keine Energiewende"

Vom Kohleausstieg über die Sektorkopplung bis zur Verkehrswende: Wie muss eine verantwortungsvolle und effektive Energiepolitik aussehen? Annalena Baerbock (Bündnis 90 / Die Grünen) und BDEW-Chef Stefan Kapferer im Gespräch

Stefan Kapferer und Annalena Baerbock

© Florian Büttner

Frau Baerbock, Ihr Parteikollege Dr. Gerd Lippold erklärte im März in einer Pressemitteilung, die Kohlekommission sei viel zu spät gestartet und solle nun endlich mit ihrer Arbeit beginnen. Was sind denn Ihre Erwartungen an diese Kommission?

ANNALENA BAERBOCK — Es wurde in der Tat viel Zeit vergeudet! Alle Beteiligten hängen völlig in der Luft: die Bewohner und Arbeitnehmer in den betroffenen Regionen, die großen Energiekonzerne, die nicht wissen, wo und wie sie investieren sollen, und die Stadtwerke, deren Strom- und Wärmestrategien ja maßgeblich davon betroffen sind, wie es weitergeht. Damit sich die Kommission mit ihrem eigentlichen Ziel, den Strukturwandel in den Regionen zu gestalten, überhaupt beschäftigen kann, muss im Arbeitsauftrag schon verankert sein, dass es bis 2020 um die Herausnahme von sieben Gigawatt – besser zehn – geht. Das ist versorgungstechnisch ohne Probleme möglich und Unterkante, um das deutsche Klimaziel 2020 überhaupt noch erreichen zu können. Auf dieser Grundlage kann sich die Kommission dann darum kümmern, wie man den Ausstieg für die Beschäftigten und die Regionen so hinbekommt, dass sie neue Perspektiven haben.

STEFAN KAPFERER — Ich glaube ja, dass die Bevölkerung diese Kommission primär als Kohleausstiegskommission wahrnimmt. Die spannende Frage ist aber, ob das nachher wirklich die zentrale Aufgabe der Kommission sein wird. Denn ein erheblicher Anteil der Kohlekraftwerke geht ja auch jetzt schon – marktgetrieben – Stück für Stück vom Netz. Und wir haben, insbesondere im Steinkohlebereich, schon eine Menge weiterer Kraftwerke bei der Bundesnetzagentur zur Stilllegung angemeldet. Die zwei zentralen Fragen, die die Kommission anpacken muss, sind: Wie bekommen wir den Strukturwandel in den Regionen hin und wie kann das energiewirtschaftlich gelingen? Wenn wir nach dem Kernenergieausstieg und nach dem aktuellen Rückgang der gesicherten Leistung in Deutschland weitere Kohlekraftwerke vom Netz nehmen, werden erhebliche Kapazitäten fehlen. Wir müssen aber nicht nur im Interesse der Energieversorger, sondern auch im Interesse des Industriestandorts Deutschland sicherstellen, dass wir in Deutschland immer Strom zur Verfügung haben, wenn wir ihn brauchen.

BAERBOCK — Klar. Und daher ist es auch gut, dass hier alle Beteiligten an einem Tisch sitzen: die Erzeuger, die Gewerkschaften, die Umweltverbände und die Vertreter der Regionen. Das entlässt die Bundesregierung aber nicht aus ihrer politischen Verantwortung, Leitplanken zu setzen. Die Atomkommission war erfolgreich, weil vorher politisch entschieden wurde, dass man aussteigt und welche Mengen vom Netz gehen. Wenn das vorab nicht geklärt wird, ist die Kommission nicht viel wert. Mit jedem Tag des Nichthandelns entfernen wir uns einen Tag vom Klimaziel und wächst die Unsicherheit in den Regionen.

KAPFERER — Schon richtig. Aber, ganz ehrlich: Bis 2020 wird die Kommission wohl nur einen reduzierten Beitrag liefern können. Ob das im Koalitionsvertrag vorgesehene Ziel, dass man bis Ende 2018 zu einem Ergebnis kommt, wirklich zu erreichen ist: Da sehe ich noch ein großes Fragezeichen. Die Energiewirtschaft wird bis 2020 das 40-Prozent-Minderungsziel schaffen. Doch eigentlich müssen wir ja schon jetzt bis 2030 denken. Die hierfür geplanten 61 bis 62 Prozent Sektorziel für die Energiewirtschaft, die sind kein Pappenstiel. Wir müssen also genau jetzt über Netzausbau reden, über Kraft-Wärme-Kopplung, über Speicher, über Gaskapazitäten. Und wir müssen über die Frage reden, wie man den zusätzlichen Ausbaupfad der Erneuerbaren sauber ins System hineinbekommt. Das sollte die Kommission auf dem Schirm haben.

BAERBOCK — Das ist kein Hexenwerk, man muss es aber wollen. Derzeit sind Speicher nicht wirtschaftlich, weil doppelt belastet. Wenn Strom in den Speicher eingespeist wird, müssen Umlagen und Steuern gezahlt werden, und wenn er rausgeht, wieder. Das könnten die Regierungsfraktionen von SPD und Union ohne Probleme und ohne Kommission ändern, wollen es mit Rücksicht auf die fossilen Kraftwerke aber nicht. Das Gleiche gilt für KWK und den weiteren Ausbau der Erneuerbaren Energien. Wenn man den Zubau gesetzlich deckelt, dann ist klar, dass fossile Kraftwerke am Netz bleiben.

BDEW Magazin 2/2018 Interview Kapferer Baerbock

Weitere wichtige Treiber der Energiewende sind Wärme und Verkehr. Frau Baerbock, Sie haben dem Focus kürzlich gesagt: "Wenn wir nicht jetzt für die Verkehrswende sorgen, dann sind die Jobs irgendwann in China." Wie kommt die Verkehrswende in Schwung?

BAERBOCK — Zuallererst muss die Bundesregierung endlich Leitplanken setzen. Der Großteil der deutschen Automobilindustrie hat die Entwicklung nicht nur verschlafen, sondern wehrt sich geradezu gegen emissionsfreie Fahrzeuge. Das gefährdet unseren Industriestandort. Die Bundesregierung muss einen Rahmen vorgeben, wie in vielen anderen europäischen Ländern oder auch in China, wo Quoten für Elektroautos oder ein Ausstiegsdatum für fossile Verbrenner eingeführt wurden. Sie können ja hierzulande heute kaum ein Elektroauto mit vernünftigem Platzangebot und Reichweite kaufen, weil ein Großteil dessen, was hier produziert wird, in den Export geht. China hat jüngst auf einer Automobilmesse eine beachtliche Vielfalt von Elektroautos präsentiert: Irgendwann wird den deutschen Exporteuren auch dieser Markt noch wegbrechen, wenn sie jetzt nicht umsteuern.

KAPFERER — Ich habe ja die Sorge, dass in der Politik noch einmal eine neue Debatte über die Sektorziele und ihre Aufweichung losbricht. Gerade weil wir so eine unterschiedliche Zielerreichung in den unterschiedlichen Sektoren haben: Die Kollegen aus der Automobilindustrie haben leider seit 1990 überhaupt keinen CO₂-Ausstoß reduziert. Sie konnten zwar die Effizienz der Motoren verbessern, aber durch die gestiegenen Fahrleistungen wurde das am Ende alles wieder aufgezehrt. Es darf nicht sein, dass man für 2030 irgendeinen der Sektoren aus der Verantwortung entlässt. Leider hat die deutsche Automobilindustrie den Fehler begangen, den die Energiewirtschaft vor zehn Jahren begangen hat, nämlich politische Botschaften nicht richtig ernst zu nehmen – "es wird ja alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird". Und daher haben wir bisher keine ausreichende Modellpalette von guten, überzeugenden Fahrzeugen. Das mag in den nächsten Jahren sicherlich besser werden, da vertraue ich auf die deutsche Ingenieurskunst, aber trotzdem müssen wir den Druck aufrechterhalten. Es soll keiner glauben, dieser Prozess könne wieder umgekehrt werden. Zugleich muss in die Netze investiert werden, so wie es die Energiewirtschaft schon jetzt massiv tut. Wenn wir eines Tages 20 oder 30 Prozent Elektroautos auf der Straße haben, brauchen die eine entsprechende Infrastruktur.

BAERBOCK — Wie Sie richtig sagen, hat die Energiebranche vor zehn Jahren Chancen verpasst. Warum? Weil politisch unklar war, in welche Bereiche man überhaupt investieren soll. Dem von uns Grünen auf den Weg gebrachten EEG folgte – ohne uns Grüne in Verantwortung – eben nicht ein klar verabredeter, schrittweiser Ausstieg aus der Kohle. Im Gegenteil: Die Kohle wurde parallel weiter subventioniert. Genau das sehen wir jetzt im Automobilbereich. Wenn man sich darauf verlässt, dass der Markt alles von alleine regelt, dann braucht man im Grunde überhaupt keine Wirtschaftspolitik. Wir setzen auch falsche Anreize: Wenn man bei Dienstwagen nur noch Elektroautos steuerlich fördern würde, hätten wir auf unseren Straßen ein völlig anderes Bild. Große Unternehmen hätten ja schon heute gerne Hybrid- oder Elektroautos für ihre Flotten; die deutschen Hersteller bieten das für den Dienstwagenbereich aber einfach nicht an.

KAPFERER — Das betrifft nicht nur das vielzitierte Dieselprivileg. Wir erleben das Problem insgesamt bei der Sektorkopplung – also bei der Frage, wie wir den immer umweltfreundlicher werdenden Energieträger Strom wettbewerbsfähig bekommen. Das spielt im Wärmemarkt derzeit eine große Rolle. Wir haben noch immer die Situation, dass Heizöl, das den höchsten CO₂-Ausstoß hat, in über fünf Millionen Haushalten in Deutschland verwendet wird. Eigentlich müssen wir die Steuer- und Abgabenbelastung bei Strom reduzieren und gleichzeitig CO₂-Preise im Nicht-ETS-Bereich etablieren. Natürlich wird ein CO₂-Preissignal nicht sofort dazu führen, dass die Leute ihren Benziner in die Ecke stellen und sich eine neue Heizung kaufen. Aber wir müssen doch irgendwann einmal anfangen, umzusteuern. Und bloß, weil man Angst vor Pendlern hat, kann man ja nicht einfach untätig ausharren.

BAERBOCK — Richtig. Man kann nicht das Pariser Klimaabkommen unterzeichnen, das ganz klar den Ausstieg aus den Fossilen für alle Sektoren vorgibt, und auf der anderen Seite ein Steuersystem betreiben, das weiterhin auf fossile Energien setzt. Die Stromsteuer war ja ursprünglich eine Lenkungssteuer für mehr Energieeffizienz. Jetzt wäre es an der Zeit, nicht den Strom weiter zu besteuern, sondern CO₂ mit einem vernünftigen Preis zu versehen. Da reicht der Emissionshandel nicht aus, zumal dieser im Wärmebereich nicht greift. Wärme, Strom, Verkehr – diese Bereiche sind noch bei Weitem nicht genug miteinander verzahnt.

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier sagte kürzlich, die Erneuerbaren seien in einigen Jahren voll wettbewerbsfähig und brauchten dann keine Forderung mehr. Teilen Sie diese Einschätzung?

BAERBOCK — Das EEG war nie auf die Ewigkeit ausgerichtet. Das Ziel war, die Erneuerbaren überhaupt in den Markt hereinzubringen, damit sie marktfähig werden. Wir haben schon vor Jahren deutlich gemacht, dass das Fördersystem da, wo es nicht mehr notwendig ist, auslaufen sollte. Dann brauchen wir aber eine vernünftige CO₂-Bepreisung. Wenn die Erneuerbaren fit für den Markt sein sollen, dann muss der Markt auch fair sein. Es kann nicht sein, dass die Fossilen indirekt subventioniert werden und dass bei der Nutzung von Stromspeichern doppelt EEG-Umlage bezahlt werden muss. Wir brauchen ein neues, faires Strommarkt-Design.

KAPFERER — Völlig d’accord. Wir haben immer dafür plädiert, Stromspeichern eine eigenständige Marktrolle im Energiesystem zu geben. Denn in Bezug auf Erzeugungskapazitäten sind Speicher in größeren volatilen Systemen essenziell. Sektorkopplung ohne Stromspeicher gibt es nicht.

(…)

Text und Moderation: Jochen Reinecke

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