Indem man Lernräume schafft, in denen Ausprobieren erlaubt, Fehler normal und Neugier der Antreiber für Problemlösungen ist. Energiewende, technischer Fortschritt, Fachkräftemangel: Viele Energieunternehmen stehen vor großen Herausforderungen. Um diese zu meistern, müssen sie angemessen und sehr schnell auf Veränderungen reagieren können. Dazu gehört, innovative Technologien zu entwickeln und einzusetzen sowie passende Infrastrukturen zu schaffen. Dazu zählt aber auch, seine Belegschaft zu befähigen, in einer zunehmend vernetzten und digitalen Welt souverän mit wandelnden Arbeitsanforderungen umgehen zu können. Wie schafft man das? Zum Beispiel durch den Einsatz agiler Arbeitsmethoden. Diese ermöglichen, kurzfristig auf Veränderungen zu reagieren und bringen nicht nur innovative Lösungen, sondern mitunter auch ungeahnte Fähigkeiten bei den Beteiligten zutage. Um agiles Arbeiten schon früh zu erlernen und projektbezogen anzuwenden, hat Energie Baden-Württemberg AG (EnBW) die Azubi-Study-Factory ins Leben zu rufen – und damit den Ausbildungsbereich zukunftsweisend aufgestellt.
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Ausbildung im Wandel
„Wir haben uns gefragt: Wie soll das Lernen der Zukunft bei EnBW aussehen? Welche Lernkultur wollen wir etablieren? Und welche Lernmethoden anwenden?“, erzählt Karsten Wagner, Leiter Ausbildung & Business Qualifikation bei EnBW. Zu diesem Zweck wurde gemeinsam mit 120 Auszubildenden, Dual Studierenden sowie Ausbilderinnen und Ausbildern ein Leitbild entwickelt, das die strategische Neuausrichtung der Ausbildung zusammenfasst und zugleich das Fundament der Azubi-Study-Factory ist. Die Factory befindet sich direkt im Ausbildungszentrum in Karlsruhe und steht allen Auszubildenden und Dual Studierenden zur Verfügung, die ihre Grundlagenausbildung bereits absolviert haben und nun die fachliche Spezialisierung anstreben. Mit der Azubi-Study-Factory hat EnBW einen Ort geschaffen, in dem zukünftig erforschendes Lernen möglich sein soll – ohne Druck und außerhalb des regulären Arbeitsalltags.
In der Factory werden agile Arbeitsmethoden wie SCRUM oder Design Thinking, die schon lange in der Informatik angewendet werden, auf die Bedürfnisse der technischen Ausbildung bei EnBW angepasst. „Damit wollen wir die Problemlösungskompetenzen unserer Nachwuchskräfte stärken und sie gleichzeitig befähigen, eigenständig Veränderung in die Wege zu leiten“, sagt Karsten Wagner. Im Frühjahr 2022 fand der erste Durchgang in der Azubi-Study-Factory statt. „Mittlerweile haben hier 45 junge Menschen verschiedene agile Lernformate kennengelernt, projektbezogen angewendet und selbstständig Lösungen erarbeitet. Wir bei der EnBW streben an, dass wir immer stärker als Lernbegleiterinnen und Lernbegleiter für Auszubildende und Dual Studierende tätig sind und damit die Problemlösungskompetenz fördern“, erklärt Personal- und Vertriebsvorständin Colette Rückert-Hennen. „Wir wollen unsere Auszubildenden und Dual Studierenden zu Fachkräften entwickeln, welche auch in einer sich stetig verändernden Arbeitswelt bestehen und wichtige Impulse setzen können.“
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Was sind agile Arbeitsmethoden?
Laut Definition sind mit agilem Arbeiten flexible und schrittweise Arbeitsmethoden gemeint. Basis dafür ist die sogenannte Ausprobierlogik. Das heißt, es geht nicht allein um das Resultat, sondern vielmehr um die schrittweise Erreichung von Zielen. Dabei sind Fehler erlaubt. Bekannte agile Arbeitsmethoden sind SCRUM, Kanban, OKR oder Design Thinking. Bei der SCRUM-Methode etwa entwickelt ein Team Schritt für Schritt (in sogenannten Sprints) ein Produkt, wobei jeder Sprint auf den Ergebnissen des vorherigen beruht. Viele der agilen Methoden, die heute in diversen Branchen eingesetzt werden, stammen aus der Software-Entwicklung und haben ihren Ursprung im „Agilen Manifest“, das 2001 von Software-Experten veröffentlicht wurde.
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Was geschieht in der Factory
Azubis und Dual Studierende durchlaufen in der Regel einen vorgegebenen, durchstrukturierten Ausbildungsplan. Bei EnBW gibt es nun aber extra Zeiten, die in der Factory absolviert werden. Hier wird dem Nachwuchs außerplanmäßig experimentelles Lernen nahegebracht: meist in kleinen Teams und anhand eines konkreten Projekts aus der Arbeitswelt. Die Ausbilderinnen und Ausbilder der verschiedenen Fachbereiche überlegen, bei welchen Auszubildenden und Studierenden das Projekt zeitlich und fachlich am besten in den Ausbildungsplan passt und treffen anhand dieser Kriterien eine Auswahl, wer mitmachen kann. Alternativ gibt es eine Ausschreibung, auf die sich Interessierte bewerben können. Fakt ist: Sie kommen in die Factory, um eine spezielle Aufgabenstellung zu bewältigen und zwar möglichst selbstständig und ohne Zeitdruck. Hier dürfen sie dann über einen Zeitraum von vier bis sechs Wochen Ideen entwickeln und wieder verwerfen, sich ausprobieren, testen und auch mal scheitern. In der Factory darf jeder Fehler machen und ganz eigene, wichtige Erfahrungen sammeln – ohne Druck oder negative Konsequenzen.
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Unterstützt werden sie von sogenannten Lernbegleitern – also speziell geschulten Ausbilderinnen und Ausbildern. Diese helfen den jungen Menschen bei der Lösungssuche und wenden dabei Strukturen (Daily, Review, Design-Sprint) und Methoden des agilen Arbeitens an. Dazu gehört beispielsweise LEGO Serious Play: eine Methode, komplexe Probleme gemeinsam und spielerisch mit LEGO-Steinen zu lösen. Die Factory ist somit ein Testlabor, in dem selbstgesteuertes Lernen unter Einsatz agiler Methoden stattfindet und sämtliche Technologien, Maschinen und Tools von EnBW zur Lösungsfindung bereitgestellt werden.
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Am konkreten (Erfolgs-)Beispiel
Ein Team wollte in der Azubi-Study-Factory eine Stempelanlage bauen und benötigte dafür unter anderem eine Förderkette. Es gab nun zwei Möglichkeiten: Entweder dieses Bauteil wie üblich einzukaufen oder aber es selbst zu fertigen. Die jungen Menschen hatten die Idee, die Förderkette per 3D-Drucker herzustellen. Doch wie funktioniert ein 3D-Drucker? Und wie benutzt man ein CAD-Programm? Denn in diesem muss die Förderkette vorab gezeichnet werden, um die Daten anschließend an den 3D-Drucker übermitteln zu können. Via YouTube brachte sich das Team diese Techniken kurzerhand selbst bei und realisierte das Produkt damit komplett eigenständig und auf neue Art und Weise. Genau das ist das Ziel der Factory: Junge Menschen sollen hier die Chance erhalten, Probleme selbstständig und durch Experimentieren zu lösen. Die agilen Arbeitsmethoden sowie die Coaches sind auf der Suche nach einem Lösungsweg quasi nur hilfreiche und notwendige Leitplanken.
„Da der technologische Fortschritt immer schneller voranschreitet, müssen wir die Mitarbeitenden verstärkt zu Problemlösenden entwickeln. Das heißt, weg vom Zertifikatslernen hin zu mehr Begeisterung und Lust auf Ausprobieren. Probleme sollen weniger als Last, sondern vielmehr als Herausforderung begriffen werden. Die Neugier und die Motivation, die es dafür braucht, wollen wir mit der Factory erzeugen.“ Karsten Wagner
Von zeitorientiertem zu ergebnisorientiertem Arbeiten
Agiles Arbeiten lebt vor allem von intrinsischer Motivation, der Neugier eine Lösung finden zu wollen und dafür auch mehrere Anläufe zu nehmen. Und das kann Spaß machen. Das Feedback der bisherigen Teilnehmenden ist durchweg positiv: „Wir haben viel ausprobiert und mussten auch mal unsere Planung verbessern. Jede Gruppe wollte Sensoren einbauen, doch wir hatten keine Ahnung, ob und wie das funktioniert. Also haben wir eine andere Lösung gesucht und gefunden“, berichtet eine Teilnehmerin (1. Lehrjahr Elektronik für Betriebstechnik). Alle, die mitgemacht haben, würden ihren Kolleginnen und Kollegen die Azubi-Study-Factory weiterempfehlen und wären auch gern ein weiteres Mal dabei.
„Jede und jeder konnte sich mit seinen Fähigkeiten einbringen. Das Ergebnis war für mich so wichtig, dass ich mich auch in meiner Freizeit mit Fusion 360 beschäftigt und weitergearbeitet habe“, erzählt eine andere Auszubildende im 1. Lehrjahr Mechatronik. Eine höhere Eigenmotivation ist einer der positiven Effekte des Programms. Ziel ist es aber auch, in der Factory besondere Skills bei den jungen Menschen herauszufiltern und diese dann entsprechend zu fördern. „Wir hoffen, dass die Auszubildenden und Studierenden ihre positiven Erfahrungen anschließend auf die alltägliche Arbeitswelt übertragen und das Wissen um agile Arbeitsweisen mit in die Abteilungen nehmen und vielleicht auch ihr Kollegium davon begeistern können“, so Wagner.
Wichtigster Tipp in Sachen Fachkräftesicherung
Agile Lernformate in der Ausbildung etablieren, geschützte Lernräume zum Austoben für junge Menschen schaffen und auch die Ausbilderinnen und Ausbilder in diesen Prozess miteinbeziehen. Denn auch deren Rolle befindet sich im Wandel. Bei EnBW machen derzeit alle Ausbilderinnen und Ausbilder eine Weiterbildung zum Coach. Zudem arbeitet das Unternehmen daran, das Programm der Azubi-Study-Factory als zertifizierten IHK-Fachkurs zu entwickeln. „Wir müssen zukünftig genauer hinschauen, was in jedem einzelnen Menschen steckt – fernab von Schulnoten und klassischen Ausbildungsanforderungen – und wie wir sie oder ihn im Unternehmen einsetzen können. Viele Jugendliche sind heute orientierungslos und wissen oft gar nicht, welche Neigungen, Talente und Fähigkeiten in ihnen schlummern“, erklärt Wagner. In geschützten Lernorten mit einer entsprechenden Fehlerkultur und agilen Arbeitsweisen kommen aber mitunter ungeahnte Talente ans Licht.
Für die innovativen Ansätze in der Ausbildung wurde EnBW 2022 mit dem 2. Platz des Deutschen Personalwirtschaftspreises ausgezeichnet. „Dies zeigt, dass die EnBW auf dem richtigen Weg ist und die neue Form des Arbeitens weiterverfolgen wird“, so Colette Rückert-Hennen. „Denn wir bilden die Fachkräfte von morgen aus und darum ist es umso wichtiger, eine innovative und zukunftsorientierte Ausbildung zu gestalten.“ Der Ausbildungsbereich ist aber erst der Anfang in Sachen agile Arbeitsmethoden. Laut Rückert-Hennen folgen nun im nächsten Schritt Mitarbeiterqualifizierungen und Weiterbildungen. „Unsere Zukunftsvision ist es, einen Ort zu schaffen, in dem unsere Beschäftigten generationsübergreifend, gemeinsam und selbstständig neue Dinge erarbeiten. Bringt man Jung und Alt in einem geschützten Rahmen zusammen, können diese viel miteinander und voneinander lernen und so die Zusammenarbeit mit Blick auf zukünftige Herausforderungen voranbringen.“
Ansprechpartner
Karsten Wagner, Leiter Ausbildung & Business Qualifikation, EnBW (karsten.wagner@enbw.com)
Zum Unternehmen
Energie Baden-Württemberg AG (EnBW) versorgt rund 5,5 Millionen Kunden mit Strom, Gas und Wasser sowie mit energienahen Dienstleistungen und Produkten. Aktuell beschäftigt das Energieversorgungsunternehmen mit Sitz in Karlsruhe 26.064 Mitarbeiter. Weitere Information zu EnBW finden Sie hier.