Zur Person
Stefan Dohler, Jahrgang 1966, stammt aus Cochem an der Mosel und ist seit Januar 2018 Mitglied des Vorstands der EWE AG. Im Juni 2024 übernahm er zudem das Amt des Präsidenten des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Seinen beruflichen Werdegang begann Dohler 1992 bei Blohm & Voss und danach Lahmeyer International. Ab 1998 war er beim Hamburger Energieversorger HEW, einem Vorgängerunternehmen von Vattenfall, wo er verschiedene Führungspositionen in den Bereichen M&A, Finanzen, Netze und Erzeugung innehatte. 2012 wurde er als Leiter der Handelssparte in das Executive Management Team der Vattenfall-Gruppe berufen und war zuletzt Finanzvorstand der Vattenfall AB in Stockholm. Dohler ist gelernter Seemann, Diplom-Ingenieur für Luft- und Raumfahrttechnik und besitzt einen Master of Business Administration (MBA).
Die Versorgungssicherheit und der Netzausbau sind zentrale Herausforderungen. Welche Maßnahmen braucht es für ein stabiles und zukunftsfähiges Stromnetz?
Stefan Dohler: Kurz- und mittelfristig gibt es einen erheblichen Netzausbaubedarf, um neue Lasten wie Wärmepumpen oder Ladeeinrichtungen für die Elektromobilität zu integrieren und für den Anschluss neuer Erneuerbare-Energien-Anlagen.
Mittel- und langfristig stellt sich dann die Frage: Bis zu welchen theoretischen Leistungsspitzen sollen die Netze überhaupt ausgebaut werden? Und in welchem Umfang ist eine netzdienliche Steuerung flexibler Lasten und Erzeugungsspitzen sinnvoll? Hier braucht es ein volkswirtschaftliches Optimum.
Ein weiteres Thema neben der Versorgungssicherheit ist die Bezahlbarkeit für den Verbraucher. Wie schaffen wir es, ein sicheres, aber auch bezahlbares Energiesystem zu gewährleisten? Auf der einen Seite geht es um den starken Ausbau erneuerbarer Energien in der Fläche, auf der anderen Seite – insbesondere in Metropolregionen – treiben Wärmepumpen und Ladeinfrastruktur den Netzausbau an. Und je nachdem, ob wir von der Höchstspannungsebene oder Verteilnetzen sprechen, haben wir unterschiedliche Herausforderungen: Transport auf der einen Seite, Versorgung und Integration neuer Verbraucher auf der anderen.
Dazu kommt ein strukturelles Problem in der Bepreisung. Unser heutiges Modell basiert auf Kilowattstunden, nicht auf Leistung. Das führt zu Verzerrungen. Wenn jemand sein Haus komplett mit PV und Speicher ausstattet, reduziert er seinen kWh-Netzbezug drastisch – zahlt aber trotzdem fast nichts für die Netzinfrastruktur, obwohl er vielleicht punktuell hohe Leistung benötigt. Und diese ist ursächlich für die Netzdimensionierung und damit -kosten. Im Vergleich dazu trägt der klassische Mieter eines Mehrfamilienhauses die vollen Netzkosten. Hier müssen wir an der Mechanik arbeiten, um eine faire Verteilung zu erreichen.
Ein weiteres Beispiel ist der Offshore-Windkraftausbau. Hier wird Leistung ausgeschrieben, nicht die maximale erzeugte Energiemenge in Terawattstunden. Das kann dazu führen, dass Flächen überbaut werden und Netzanschlusskosten steigen. Auch die Finanzierungsfrage spielt eine zentrale Rolle: Je mehr Risiko Investoren tragen müssen, desto teurer wird das gesamte System. Der Staat könnte hier mit Garantien unterstützen, um Finanzierungskosten zu senken – und damit auch die Gesamtkosten des Systems.
Obwohl die Politik bereits Maßnahmen ergriffen hat, bleiben langwierige Genehmigungsverfahren ein Bremsfaktor beim Ausbau erneuerbarer Energien. Spüren Sie echte Verbesserungen, und wie können Genehmigungen weiter beschleunigt werden?
Unsere Erfahrung zeigt, dass sich die Genehmigungsverfahren in letzter Zeit spürbar beschleunigt haben. Die Bundesregierung hat etliche Stellschrauben verstellt; das hat viel in Bewegung gebracht. Gerade bei unserer Windkraft-Gesellschaft Alterric merken wir, dass Behörden zunehmend schneller agieren.
Statistisch sehen wir, dass sich die mittlere Genehmigungsdauer bereits von 23 auf 17 Monate verringert hat. Das ist ein bedeutender Fortschritt, aber immer noch ein Stück entfernt von den im Bundes-Immissionsschutzgesetz angepeilt maximal zehn Monaten.
Wichtig ist nun, die Fortschritte zu festigen und weiter an praktischen Detail-Lösungen zu arbeiten. Auch die Umsetzung der europäischen Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED III) in nationales Recht hat oberste Priorität. Sollte das nicht rechtzeitig gelingen, würden wir ab Mitte 2025 wieder auf ältere, bürokratischere Verfahren zurückfallen – das wäre ein enormer Rückschritt und würde die Planung vieler Projekte deutlich verzögern.
In einem zunehmend volatilen Strommarkt gewinnen Speicher und flexible Lasten an Bedeutung. Wie bewerten Sie den starken Anstieg bei Batteriespeichern, und welche Rolle spielen dynamische Tarife und Sektorkopplung für EWE?
Durch den Hochlauf erneuerbarer Energien wird das Thema Flexibilität immer wichtiger. Stromerzeugung und -verbrauch müssen nicht mehr gleichzeitig zusammenpassen, sondern werden zunehmend über Speicher und flexible Lasten in Balance gehalten. Batteriespeicher sind dafür ein zentraler Baustein.
In Deutschland ist das gesamte Batteriespeichervolumen allein 2024 um 47 Prozent gestiegen, auf inzwischen knapp 18 GWh. Das Wachstum ist gleichmäßig verteilt auf Großspeicher, Gewerbespeicher und Heimspeicher. Die Prognosen der Übertragungsnetzbetreiber, wonach sich diese Kapazität langfristig um den Faktor 12 bis 20 erhöhen könnte, zeigen das enorme Potenzial.
Hintergrund ist auch, dass die Anschaffungskosten für Batteriespeicher in den letzten Jahren erheblich gefallen sind. Dadurch sind heute Geschäftsmodelle wirtschaftlich, die vor Kurzem noch nicht tragfähig waren. Günstige Flexibilitätsoptionen entlasten zudem das Gesamtsystem und beschleunigen die Integration erneuerbarer Energien. Aber Obacht: Die rein marktliche Optimierung von Großspeichern kann auch Netzengpässe verstärken und dadurch die Redispatchkosten deutlich steigen lassen.
Ergeben sich daraus neue Geschäftsfelder?
Als regionales Versorgungsunternehmen ist das für uns sehr relevant. Wir bieten Lösungen rund um Photovoltaik, Wärmepumpen und E-Mobilität an, zum Beispiel über eine hauseigene Montagegesellschaft. Mit einem Home-Energy-Management-System (HEMS) können wir diese Komponenten intelligent verbinden. Darüber hinaus haben wir einen dynamischen Stromtarif, der die Börsenpreisentwicklung 1:1 an unsere Kunden weitergibt. So lassen sich Elektroautos und andere flexible Verbraucher in Zeiten günstiger Preise laden. Für uns ergeben sich damit neue Geschäftsfelder, für die Kunden entstehen Möglichkeiten, ihre Flexibilität zu monetarisieren und das Gesamtsystem zu unterstützen.
Der Ausbau erneuerbarer Energien erfordert hohe Investitionen. Welche politischen Rahmenbedingungen sollte die nächste Bundesregierung schaffen, damit Investitionen leichter möglich sind und die Energiewende langfristig wirtschaftlich tragfähig bleibt?
Ein zentrales Thema ist das Strommarktdesign: Es muss erneuerbare Energien in den Mittelpunkt stellen und künftig 80, 90 oder gar 100 Prozent Erneuerbare effizient integrieren. Langfristige Klarheit und Sicherheit bei den Investitionsbedingungen sind entscheidend, um das Momentum im Ausbau zu halten. Im Einzelnen braucht es:
- Anreize für einen markt- und systemdienlichen Anlagenbetrieb: So können Erneuerbare ihre Flexibilität besser ins System einbringen.
- Mittelfristig staatliche Absicherung zur Stabilisierung der Finanzierungskosten: Wir werden die ambitionierten Ausbauziele nur erreichen, wenn das Investitionsrisiko für erneuerbare Projekte überschaubar bleibt.
- Wechsel vom produktionsabhängigen zum produktionsunabhängigen EE-Fördermodell: Ein stärkeres Strompreissignal kann die Integration Erneuerbarer in den Markt verbessern.
- Ausbau des PPA-Markts: Marktliche Finanzierungslösungen wie Power Purchase Agreements stärken den Wettbewerb und binden Unternehmen direkter in die Finanzierung von EE-Projekten ein.
- Verlässliche Übergangszeiträume bei jedem Systemumbau, damit bereits gestartete Projekte nicht ins Leere laufen.
EWE ist besonders im Norden fest verankert, wo Windkraft eine zentrale Rolle spielt. Wie beurteilen Sie den aktuellen Ausbau der Windenergie, und reichen die politischen Rahmenbedingungen aus, um den Ausbau ambitioniert fortzuführen?
Dank der Reformen der letzten Jahre hat der Windenergieausbau einen deutlichen Schub bekommen. 2024 wurden rund 14 GW neue Windenergieleistung genehmigt – ein Rekordwert. Um die Ziele bis 2030 zu erreichen, müssen wir jedes Jahr Genehmigungen auf diesem Niveau erreichen.
Die Politik muss ihre beschlossenen Ziele bei der Flächenausweisung beibehalten und die neu erreichten Beschleunigungen im Genehmigungsverfahren nicht wieder verwässern. Zudem ist es dringend nötig, die europäische Erneuerbare-Energien-Richtlinie III (RED III) prioritär in nationales Recht umzusetzen. Andernfalls würden wir ab Sommer 2025 zum alten, sehr bürokratischen Planungsrecht zurückkehren.
Außerdem kommt der Umsetzung des Net-Zero-Industry-Act (NZIA) eine hohe Bedeutung zu. Er muss den Einsatz europäischer Anlagen tatsächlich fördern, ohne die Verfahren noch komplexer zu machen.
Welche Weichen muss die Politik in den nächsten vier Jahren stellen, damit Deutschland seine Klimaziele beim Ausbau erneuerbarer Energien erreicht und Unternehmen wie EWE den Ausbau noch schneller vorantreiben können?
Entscheidend sind drei Faktoren:
- Schnelle Klarheit über die Investitionsbedingungen ab 2027: Wir brauchen einen Rahmen, der stärker auf den Markt setzt, gleichzeitig aber Betreiberrisiken angemessen absichert.
- Stabilität bei Flächenausweisung und Planung: Politische Zielvorgaben dürfen nicht jedes Jahr geändert werden, sonst bremst das Investitionen aus.
- Schnellere und unbürokratischere Netzanschlüsse: Sowohl an Land als auch auf See müssen Projekte zeitnah ans Netz kommen können.
Wenn Sie eine zentrale Botschaft an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft richten könnten: Was braucht Deutschland jetzt, um den Ausbau erneuerbarer Energien nachhaltig und erfolgreich voranzutreiben?
Der Ausbau erneuerbarer Energien ist das Fundament für eine bezahlbare und stabile Energieversorgung und damit für Wachstum, Wohlstand und die langfristige industrielle Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Die aktuellen geopolitischen Entwicklungen ändern hieran nichts, sondern verstärken vielmehr die Notwendigkeit für eine konsequente Transformation.
Die neue Bundesregierung sollte daher den eingeschlagenen Kurs beibehalten und sicherstellen, dass sich die positiven Entwicklungen beim Ausbau der Erneuerbaren Energien weiter fortsetzen. Dabei müssen wir die Belastung für Verbraucherinnen und Verbraucher im Blick behalten, um die nötige Akzeptanz in der Gesellschaft zu sichern. Je effizienter das Gesamtsystem wird, desto eher bleiben die Kosten im Rahmen.
Gerade netzdienliche Lösungen wie der Einsatz von Elektrolyseuren in direkter Nähe zu Erzeugungszentren können den Ausbau erleichtern und Netzausbaubedarf reduzieren. Wichtig ist, dass wir diese Chancen konsequent nutzen. Unterm Strich braucht es: Klarheit, Verlässlichkeit und Effizienz. Dann gelingt uns der schnelle Ausbau der Erneuerbaren, und wir erreichen unsere Klimaziele im Sinne aller Beteiligten.