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Matthes: "Sehe die Notwendigkeit des Zubaus von 30 GW steuerbarer Leistung"

Felix Matthes vom Öko-Institut spricht im Interview über die aktuellen Herausforderungen im Strommarktdesign und warum wir in eine neue Phase der Energiewende eintreten.

Felix Matthes über die aktuellen Herausforderungen im Strommarktdesign

© Zetong Li / Unsplash

Zur Person

Dr. Felix Chr. Matthes hält ein Diplom in Elektrotechnik der Technischen Hochschule Leipzig und ist promovierter Politologe (Freie Universität Berlin). Er ist seit 2009 als Forschungskoordinator für Energie- und Klimapolitik am Öko-Institut tätig. Seine Forschungs- und Beratungstätigkeit konzentriert sich vor allem auf Dekarbonisierungsstrategien, Emissionshandel und CO2-Bepreisung, Energiemarktdesign und die Ausgestaltung und Bewertung von Politikmaßnahmen in Fragen der Energie- und Umweltpolitik. Er war und ist Mitglied in zahlreichen politischen Beratungsgremien, Beiräten von Unternehmen und Institutionen.


Der Stromsektor steht auf vielen Ebenen vor großen technischen und volkswirtschaftlichen Herausforderungen. Welche dieser Herausforderungen erachten Sie als die größten und welche Rolle spielt dabei die Flexibilisierung des Strommarktes?

Felix Matthes: Die zentralen Herausforderungen sind nicht technischer oder volkswirtschaftlicher Natur, sondern eher regulativer Natur. Das Marktdesign stellt dabei eine ganz große Herausforderung dar. Dort gibt es drei Aufgaben zu betrachten: Koordination des Systembetriebs, Refinanzierung von Investitionen und die Schaffung von Lokalisierungsanreizen. Bei der Koordination des Systembetriebs sind wir grundsätzlich gut aufgestellt, gerade auch nachdem Rufe zum Eingriff in das Merit-Order-Prinzip und die damit verbundene Verzerrung von Preissignalen abgewehrt wurden. Aber diese für die Koordination des Systembetriebs so wichtigen Preissignale kommen bei den verschiedenen Akteuren nur teilweise an. Und das betrifft auch die Akteure, die für eine höhere Flexibilität wichtig sind. Und da sind wir beim Bereich der Digitalisierung. Hier haben wir es, um es deutlich zu sagen, mit einer „Smart-Meter-Katastrophe“ zu tun, also die mangelhafte Verbreitung der Smart Meter, sowie die weiterhin prävalenten Standardlastprofile. Es gibt aber auch noch andere Barrieren für die preisbasierte Flexibilitätssteuerung, etwa die 7000-Stunden-Regel für energieintensive Betriebe.

Der zweite Aspekt im Marktdesign betrifft die Fähigkeit zur Refinanzierung von Investitionen, vor allem im Bereich der steuerbaren Kraftwerke. Zur Funktionsfähigkeit des derzeitigen Marktdesigns gibt es unterschiedliche Einschätzungen, ich bin da ein klarer Befürworter von Kapazitätsmärkten.

Bei der Frage der Refinanzierung stelle ich bei Gaskraftwerken gerne vier Fragen. Erstens, können am Strommarkt sehr hohe Preisspitzen auftauchen? Prinzipiell ja, wir haben das ja erlebt. Zweitens, glaubt man, dass die Preisspitzen so berechenbar auftreten können, d.h. über längere Zeiträume oder in gewisser Regelmäßigkeit, sodass man Investition darauf aufbauen könnte? Das ist eher unklar. Drittens, glauben Sie, dass der Regulierer der Versuchung widerstehen wird, einzugreifen? Nein, das haben wir bereits 2023 gesehen. Und aktuell haben wir ja wieder eine Diskussion, die zur Gewährleistung der Systemsicherheit in Reserven vorgehaltenen und dort auch vergüteten Kraftwerke, aus Strommarktsicht auch Never-come-back-Kraftwerke genannt, zur Vermeidung von Strompreisspitzen wieder in den Markt zu bringen. Viertens, basierend auf den Antworten zu den Fragen eins bis drei, würden sie eine große Investition – wie einen Kraftwerksneubau – tätigen? Die klare Antwort lautet wohl: Nein.

Das ist dann der Nachweis für die Notwendigkeit einer anderen Finanzierungsmöglichkeit, zum Beispiel dem Kapazitätsmarkt, wo übrigens auch Speicher berücksichtigt werden müssten. Die Refinanzierung von Investitionen über das Marktdesign betrifft aber auch erneuerbare Energien. Hier werden wir Korrekturen vornehmen müssen, letztlich wird es hier auf produktionsunabhängige Modelle hinauslaufen müssen, entweder eine direkt kapazitätsorientierte Refinanzierung oder ähnlich wirkende Mechanismen, beispielsweise die so genannten Financial Contracts-for-Difference. Das so reformierte EEG oder ein dann anders genanntes Marktdesign-Segment wird für erneuerbare Energien nicht verzichtbar sein.

Zur dritten Funktion des Marktdesigns: Bei lokalen Steuerungssignalen gibt es einen großen Streit um Nodal Pricing bzw. Bidding Zones und lokalen Steuerungselementen auf anderen Ebenen. Ich favorisiere eher Strompreiszonen, aber man kann die lokalen Steuerungssignale auch in Kapazitätsmärkte integrieren, über dynamische Netzentgelte oder andere Mechanismen regeln. Einfach und regulativ unaufwändig ist aber keine der Alternativen zu Strompreiszonen. Es bleibt ein komplexes Thema, bei dem es natürlich einerseits um die Systemeffizienz, andererseits aber auch um eine Vielzahl von Verteilungsfragen und politische Narrativen geht.

Dann wären wir nach dem Marktdesign beim zweiten großen Thema: Netzentgelte bzw. Stromnetze. Bei den Netzentgelten stellt sich auch eine Effizienz- und verteilungspolitische Frage: Wir müssen die Stromkosten runterbringen. Guckt man sich die einzelnen Positionen an, werden Netzentgelte öffentlich finanziert werden müssen, um die Preise runterzubringen. Die Fundamentalkosten, also insbesondere Strom im Vergleich zu Gas oder Mineralölprodukten, müssen wir verbessern. Daher als Ziel: Zwischen Gas und CO2 einerseits und Strom andererseits sollte es ein Verhältnis von 1:2 oder 1:3 geben, damit die Transformation läuft. Ein wichtiger Hebel dafür wären eben die Netznutzungsentgelte.

Bei den Netzen gilt es auch zu überlegen, für welche Durchsatzmenge wir die Netzkapazitäten auslegen. Im Jahr 2020 waren 580 TWh noch unangemessen niedrig, 750 TWh sollten es ein. Jetzt sind es nicht mehr 750, sondern eine niedrigere Zahl. Es ist eine schwierige Diskussion, denn die Unsicherheiten in der Infrastruktur werden insgesamt größer und die Frage stellt sich: Welcher Teil des bislang unterstellten Strombedarfs kommt nie, z.B. aufgrund von Abwanderung der Industrie oder Überschätzung der heimischen Elektrolyse, und welcher nur später, beispielsweise bei Wärmepumpen und Elektrofahrzeugen? Wir wissen nicht, wo wir landen, wir werden uns auf breitere Entwicklungskorridore einstellen müssen.

Das hat dann Konsequenzen für die Schlussfolgerungen aus dieser Unsicherheit. Hier ist die Entkopplung von Planung und Genehmigung und der faktischen Investition in die Netze entscheidend. Man braucht hier eine Flexibilisierung, indem man für Bandbreiten plant und die Investitionen dann auf Sichtweite auslöst. Es bleibt aber allgemein ein schwieriges Feld.

Eine ganz maßgebliche Flexibilitätsoption stellt auch die Sektorintegration dar. Das heißt die Harmonisierung von Infrastrukturen, also Strom, Gas, Wasserstoff, und CO2. Wie kann man mit überschüssigem Strom bestmöglich umgehen? Eine Möglichkeit ist etwa Power-to-Heat und zur Ausbalancierung des Stromsystems auch Power-to-H2, eine teure, aber für saisonale Speicherung einzige sinnvolle Option. Bei der strombasierten Erzeugung von Wasserstoff jenseits der saisonalen Speicherung bin ich skeptisch, denn die Wasserstoff-Produktionskosten sind hoch in Deutschland, vor allem durch die Stromkosten, die bei einer sinnvollen Auslastung der Elektrolyse erreichbar sind. Wir werden den Wasserstoffbedarf Deutschlands jenseits der saisonalen Speicherung aus anderen Ländern decken müssen, die in Pipeline-Reichweite liegen und bessere Standortbedingungen bei den Stromkosten haben. Viele der aktuellen Erwartungshaltungen zum einheimisch erzeugten Wasserstoff als Bulk Commodity halte ich für total überspannt. Das deutsche Elektrolyseziel von 10 GW werden wir nicht erreichen und es ist angesichts der inzwischen absehbaren Rahmenbedingungen auch nicht sinnvoll.

Wie weit sind wir im derzeitigen Marktsystem mit der Flexibilisierung? Haben wir schon genug Potenzial gehoben?

Nein. Wie bereits erwähnt, kommen die wichtigen Preissignale an zu wenigen Stellen bei der Flexibilität an. Solange wir auch im kleinen Bereich nach Standardlast fahren, gibt es keine Flexibilität. Da gibt es keine Aggregatoren. Bei den großen Flexibilitäten steht die 7000-Stunden-Regel im Weg.

Konterkarieren sich eine Förderung von steuerbaren Kraftwerken, zum Beispiel moderne H2-ready-Gaskraftwerke, auf der einen Seite und die Forderung nach mehr dezentraler Erzeugung- und Verbrauchsteuerung auf der anderen Seite?

Nein, Flexibilität bedeutet überwiegend Kurzzeitflexibilität. Ich sehe aber auch die Notwendigkeit des Zubaus von 30 GW steuerbarer Leistung, zum Beispiel für Dunkelflauten. Die Dunkelflauten-Flexibilität wird nicht nur über wenige Stunden benötigt, sondern Tage und Wochen. Daher konterkariert es in keiner Weise die Forderung nach mehr dezentraler Erzeugungs- und Verbrauchssteuerung. Es mag zwar sein, dass steuerbare Kraftwerke sehr hohe Preisspitzen kappen. Aber auf diese Ausnahmesituationen wird kein Flexibilitätsanbieter seine Investition auslegen.

Bei der dezentrale Erzeugung- und Verbrauchssteuerung gibt es lange Diskussionen um zellulare Konzepte, nur sind diese nicht im Wettbewerb wirksam, das funktioniert nur im Monopol. Wir müssen daher die technologische von der regulatorischen Frage der Dezentralität unterscheiden.

Wir werden technologisch zweifelsohne sehr viel mehr Dezentralität bekommen, sollten aber regulative Dezentralität jenseits der Lokalisierungssignale nicht aktiv verfolgen, d.h. dort keine Steuerungssignale triggern, die dezentral erzeugt werden.

Welche Weichen müssen dringend aus Ihrer Sicht zeitnah gestellt werden, um den größtmöglichen Nutzen aus der Flexibilisierung, insbesondere der dezentralen Flexibilität wie Lastverschiebung, Heimspeicher, etc., zu erreichen?

Die Fragen des Marktdesigns, der Infrastrukturentwicklung, Digitalisierung sowie der Verbilligung von Strom müssen zwingend angegangen werden. Preissignale müssen an den Orten ankommen, an denen reagiert werden kann, also auch auf der Endverbraucherebene wie Haushalte. Dort gibt es dann auch viele Speicher. Große Speicher können und sollten in die Kapazitätsmärkte integriert werden.

Nach meiner Ansicht stehen wir an der Schwelle zu einer neuen Phase der Energiewende, wo neue Spielregeln gelten. Einerseits kommen wir zunehmend in den konsumentennahen Bereich, wo Akteure dominieren, bei denen komplett andere Entscheidungskalküle wirken. Das ist nicht mehr das Spiel, bei dem wenige, sehr professionelle und ökonomisch sehr rational handelnde Akteure agieren.

Im Energiesektor gehen wir von einem betriebskostenintensiven hin zu einem kapitalkostenintensiven System über. Mit vielen Implikationen, von der Eigenkapitalfrage bis hin zu sozialen Herausforderungen. Umgekehrt verhält es sich bei der Transformation des Industriesektors, worauf wir an vielen Stellen noch keine Antwort haben, gerade im Bereich der Flankierung von höheren Betriebskosten.

Derzeit ist ein Großteil der politischen Energie immer auf den Stromsektor konzentriert, aber die Industrie und der konsumentennahe Bereich werden in zwei oder drei Jahren die Energieindustrie als Fokus des Emissionsbereichs ablösen.

Schließlich ergibt sich diese neue Phase der Energiewende auch auf die neuen Elemente des Energiesystems. Mit Wasserstoff – und auch bald CO2 – haben wir zwei neue Commodities, die wir im System unter Wettbewerbsbedingungen ausrollen müssen, unter vielfältigen Unsicherheiten bei Mengen, Infrastrukturen und Kosten. Das ist anders als bei den heutigen Märkten für Strom, Mineralöl und Gas, die sich zunächst im Monopol entwickelt haben und dann nach Jahrzehnten schrittweise in den Wettbewerb überführt wurden. Das wird heute schneller gehen müssen, aber auch nicht gleich beim perfekten Zielmodell starten können.

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