Kerstin Andreae ist seit November 2019 Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des BDEW. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre in Freiburg arbeitete sie bei verschiedenen Instituten und Unternehmen, bevor sie von 1999 bis 2002 Gemeinderätin im Gemeinderat der Stadt Freiburg war. 2002 wurde Andreae über die Landesliste der Partei „Bündnis 90/DIE GRÜNEN“ in den Deutschen Bundestag gewählt. Von 2002 bis 2007 war sie Mitglied im Finanzausschuss und kommunalpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die GRÜNEN und von 2007 bis 2012 als wirtschaftspolitische Sprecherin tätig. 2012 wurde Andreae zur stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt. Ab 2017 war sie wirtschaftspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN.
Welche bedeutenden Trends und Entwicklungen erwarten Sie in den kommenden 2-5 Jahren, die potenziell Einfluss auf die Stadtwerke haben könnten?
Andreae: In den nächsten Jahren wird es darum gehen, den Rahmen für die weitere Umsetzung der Energiewende weiterzuentwickeln. Wichtig ist hierbei, den Rahmen so zu setzen, dass die Umsetzung der Aufgaben für die Energiewirtschaft auch machbar ist. Das betrifft natürlich vor allem auch die Stadtwerke, die vor Ort in den Regionen die Energiewende mit großem Engagement voranbringen.
Wenn wir von konkreten Entwicklungen sprechen, so wird u.a. die Finanzierung der Energiewende sicher eines der prägendsten Themen der nächsten Jahre sein, genauso wie die Ausgestaltung eines Kapazitätsmarkts. Hierfür müssen auch die Marktkräfte und Preissignale gestärkt werden sowie die System- und Kosteneffizienz in den Fokus gerückt werden. Die Wärmewende, die Königsdisziplin der Energiewende, müssen wir ebenfalls entschlossen weiter angehen, etwa mit der Novellierung der AVBFernwärmeV. Auch bei der Neugestaltung der Regulierung durch die Bundesnetzagentur bringen wir uns konstruktiv ein, um Rahmenbedingungen zu schaffen, die das wirtschaftliche Umfeld der Stadtwerke angemessen berücksichtigen.
In der diesjährigen Stadtwerkestudie wird die Rolle von Regulierung und gesetzlichen Vorgaben adressiert: Welche konkreten Auswirkungen haben Ihrer Meinung nach die regulatorischen Vorgaben wie gesetzliche Rahmenbedingungen in den letzten fünf Jahren auf die Wirtschaftlichkeit der Stadtwerke gehabt? Halten Sie diese Entwicklungen für angemessen oder empfinden Sie sie als übermäßig komplex?
In den letzten Jahren wurde eine Reihe von wichtigen Regelungen auf den Weg gebracht, um die Energiewende und den Ausbau der Erneuerbaren Energien weiter voranzubringen, wie das Solarpaket und das Wärmeplanungsgesetz. Auch die Verlängerung der Übergangsregelung zu § 7c Abs. 1 EnWG war eine wichtige Initiative, die den Stadtwerken nun mehr Zeit gibt, ihren Ladesäulenbetrieb umzustrukturieren. Ich bin sehr froh, dass es auf Drängen des BDEW gelungen ist, die Politik hier von der Notwendigkeit einer Verlängerung zu überzeugen. Trotzdem ist es für mich nicht nachvollziehbar, dass es auf europäischer Ebene keine grundsätzliche Ausnahme zur Entflechtung für De-minimis-Unternehmen gibt. Auch weitere Initiativen wie die Einführung dynamischer Stromtarife oder der Lieferantenwechsel in 24 Stunden sind verabschiedet worden, die das Engagement der Energiewirtschaft und ihr Investitionsumfeld eher hemmen — trotz der intensiven Aktivitäten des BDEW.
Gab es weitere spezifische Beispiele oder Situationen, in denen Sie den Eindruck hatten, dass Regulierungen oder gesetzliche Vorgaben eher als Hemmnis denn als Unterstützung für die Energiewende wirken? Welche Aspekte waren dabei besonders hinderlich?
Ein Thema, das wir mit Sorge beobachten, ist die übermäßige Anzahl an Berichts- und Informationspflichten in der Energiewirtschaft. Zwar ist es gelungen, in einigen Bereichen Meldepflichten zu verringern — so wurde der Fragenkatalog zum Monitoringbericht 2024 um ca. ein Drittel gekürzt. Diese Bemühungen werden aber dadurch konterkariert, dass an anderer Stelle zusätzliche Meldepflichten etabliert werden, wie durch die Ausweitung der Qualitätsregulierung durch die Bundesnetzagentur oder die Einführung neuer quartalsweiser Abfragen. Dies ist eine Entwicklung, die das Engagement der Stadtwerke für die Energiewende enorm hemmen, da Ressourcen gebunden werden, die an anderer Stelle dringend benötigt werden. Auch wenn der Bedarf an belastbaren Daten nachvollziehbar ist, muss das Verhältnis an Aufwand und Nutzen stimmen. Und hier muss man ganz klar sagen: Das sehe ich nicht.
Wo sehen Sie die größten Herausforderungen oder Pain Points in Bezug auf die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben für Stadtwerke und welche bewährten Praktiken könnten Stadtwerke übernehmen, um dem zu begegnen?
Das Mikromanagement durch Gesetzgeber und Regulierungsbehörden, zu dem in großen Teilen auch die Berichtsund Informationspflichten gehören, ist meiner Meinung nach der größte Pain Point für die Energiewirtschaft. Aufgabe des Gesetzgebers ist es, einen Rahmen vorzugeben, der von der Bundesnetzagentur ggf. weiter konkretisiert wird. Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen aber, dass die Vorgaben einen Detaillierungsgrad erreicht haben, die den Gestaltungsspielraum der Stadtwerke übermäßig einschränken. Das politische Bedürfnis nach Überregulierung steht der Bewältigung der Aufgaben, die für die Transformation der Energiewirtschaft notwendig sind, diametral entgegen.
Dank der Kreativität und dem Innovationsgeist vor allem aus dem Stadtwerkeumfeld gelingt es der Energiewirtschaft, nicht nur die Versorgungssicherheit weiter auf hohem Niveau zu halten, sondern auch die Energiewende weiter voranzubringen. Ein Trend, den ich anhand zahlreicher Partnerschaften und gemeinsamer Projekte wahrnehme, ist der Fokus auf Kooperationen zwischen unterschiedlichen Akteuren der Energiewirtschaft. Die Bereitschaft, die Energiewende aktiv voranzutreiben, ist weiterhin da. Ich nehme aber auch ein wachsendes Unverständnis in der Branche gegenüber dem Mikromanagement des Gesetzgebers wahr.
Wo sehen Sie — insbesondere mit Blick auf Stromerzeugung, Netzbetrieb, Vertrieb — die größten Schwierigkeiten bei der Umsetzung regulatorischer und gesetzlicher Anforderungen?
Die Chance, teilweise auch die Notwendigkeit, für Optimierung besteht in allen Bereichen der Wertschöpfungskette: Die Investitionsbedingungen in der Erzeugung müssen dringend verbessert werden, etwa durch die Einführung eines möglichst unkomplizierten Kapazitätsmarktes. Auch das Investitionsumfeld im Netzbereich muss besser werden: Die regulatorische Verzinsung des eingesetzten Kapitals muss im aktuellen Zinsumfeld attraktiv und wettbewerbsfähig sein, was eine deutliche Erhöhung bedeutet. Kleinere Stadtwerke dürfen durch die neuen Regulierungsinitiativen der Bundesnetzagentur nicht benachteiligt werden. Und im Vertrieb muss man die Sinnhaftigkeit der flächendeckenden obligatorischen Einführung dynamischer Stromtarife und eines Lieferantenwechsels in 24 Stunden kritisch hinterfragen. Und das sind nur einige Punkte unter vielen weiteren.
Ist denn ein echter Bürokratieabbau in der Energiewirtschaft angesichts der komplexen Thematik überhaupt möglich?
Immer wieder wird die Möglichkeit wirklichen Bürokratieabbaus infrage gestellt. Was mir Mut macht, sind die BDEW-Mitgliedsunternehmen. Im Herbst 2023 bereits haben wir im Rahmen einer digitalen Mitgliederbefragung zum Bürokratieabbau Rückmeldungen von 70 Unternehmen mit 170 konkreten Vorschlägen erhalten, die wir aufbereitet der Politik im Rahmen der Konsultationen zum Bürokratieentlastungsgesetz IV zugeleitet haben. Von der Politik wurde davon bedauerlicherweise kaum etwas aufgegriffen. Was ich aber damit sagen will: Die konstruktiven Vorschläge liegen nach wie vor auf dem Tisch, es kommt darauf an, sie nun auch umzusetzen. In der neuen Legislatur braucht es ein eigenes Bürokratieentlastungsgesetz für die Energiewirtschaft. Der BDEW wird sich weiter dafür stark machen.
Wie sehen Sie die Rolle des Verbands in diesem Zusammenhang?
Das Thema Bürokratieabbau wird von unserer KMU-Vertretung im BDEW betreut, die sich hier kontinuierlich einbringt. Denn auch wenn bürokratische Vorgaben die gesamte Energiewirtschaft betreffen, sind kleine und mittlere Unternehmen überproportional durch Bürokratie belastet — sie haben schlicht nicht die gleichen Ressourcen wie größere Unternehmen. Ich finde es wichtig, dass wir das Thema durch die zentrale Verortung im BDEW stets im Blick haben, sowohl bei umfassenden Initiativen wie dem Bürokratieentlastungsgesetz als auch bei eher fachlichen Gesetzen.
Welche Services bietet der BDEW an, um seine Mitgliedsunternehmen stets über die aktuellen Vorschriften zu informieren und sie bei der Umsetzung zu unterstützen?
Ein besondere Erfolgsstory sind unsere regelmäßigen Webinare in unterschiedlichsten Formaten, mit denen wir sehr schnell und umfassend über Neuigkeiten informieren können. Unsere Fachabteilungen können hier Detailfragen direkt beantworten oder aber auch für eine vertiefte Aufbereitung im Nachhinein aufgreifen.
Neben zahlreichen Newslettern, die unsere Mitglieder abonnieren können, stellen wir zu konkreten Umsetzungsthemen immer wieder Anwendungshilfen, FAQ und interaktive Tools zur Verfügung, die praxisorientiert Unterstützung bieten. Bei einigen übergreifenden Themen ist die Anzahl unserer Anwendungshilfen, Positionspapiere, News-Artikel und FAQs mittlerweile so groß, dass wir alle Informationen noch einmal kondensiert in Form eines Factsheets zusammentragen.
Besonders wichtig ist mir auch der persönliche Austausch mit unseren Mitgliedern, der mir immer wichtige Impulse aus der Praxis gibt. Gerade im Austausch mit der Politik sind konkrete Erfahrungen aus der Lebenswirklichkeit der Energiewirtschaft immer hilfreich, ich denke hier besonders an die Ladesäulenthematik des 7c EnWG.
Welche Reformen wären aus Ihrer Sicht notwendig, um die gesetzlichen und regulatorischen Hürden zu reduzieren und die Transformationsaufgaben der Stadtwerke effizienter zu gestalten?
Klar ist: In der neuen Legislaturperiode braucht es ambitionierte Machbarkeit. Mit Betonung auf Machbarkeit. Die Energiewirtschaft hat in den vergangenen Jahren Enormes geleistet. So wurde nicht nur die Gaskrise erfolgreich bewältigt und gemanagt, gleichzeitig ist der EE-Ausbau weiter vorangeschritten, so dass 2024 deutlich fast 60 Prozent des verbrauchten Stroms aus Erneuerbaren Energien erzeugt wurde. Und erstmals in der Geschichte der Energiewirtschaft wurde ein bundesweites Wasserstoff-Kernnetz mit rund 9.000 km konzipiert und genehmigt.
Wir erreichen unsere Zielsetzungen nur dann, wenn sie auch technisch und mit den vorhandenen Ressourcen umsetzbar sind. Und wenn sie systemisch und effizient gedacht werden. Die Balance zwischen Wirtschaftlichkeit, Klima und Versorgungssicherheit muss im Einklang sein.
Vielen Dank für das Gespräch!