Header Magazin Zweitausend50 Europe Calling

Energiewende in Europa:

Zwischen Kosten und Klimazielen

Industrie, Infrastruktur, Ideen: Europas Energiewende nimmt Fahrt auf – doch findet der Kontinent rechtzeitig seinen gemeinsamen Kurs?

Illustration Gasimport Europa

© Robert Albrecht / BDEW

 

Die Kräne des Industriehafens von Mukran auf der Insel Rügen strecken sich Richtung Himmel, als wollten sie ihn festhalten in Zeiten der großen Veränderungen. Ihre metallenen Arme zeichnen harte Linien gegen das weiche Licht, während das schwimmende LNG-Terminal vor ihnen ruhig im Wasser liegt, fest vertäut wie ein übergroßer Frachter, der nicht mehr ablegen wird. Seit September 2024 ist diese Gasverflüssigungsanlage in Betrieb, in regelmäßigen Abständen nähern sich Tankerschiffe aus den USA dem Anleger und liefern: Energiesicherheit – mit flüssigem Erdgas, LNG.

Eine gute Stunde Autofahrt entfernt weiter südlich an der Ostseeküste, in Lubmin, ein ähnliches Bild: Anlagen, Terminals, stählern glänzende Rohre. Und doch eine völlig andere Energiezukunft: Wasserstoff. Die einstigen Gasleitungen werden derzeit umgerüstet; Lubmin spielt eine entscheidende Rolle im neu entstehenden Wasserstoffkernnetz. Zwar ließe sich auch das LNG-Terminal in Mukran perspektivisch mit Wasserstoff betreiben, doch aktuell dominiert hier fossiles Erdgas.

Und so ist der Blick auf Mukran und Lubmin mehr als ein Blick auf zwei kleine Orte an der Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns. Es ist der Blick auf zwei Orte, an denen sich exemplarisch zeigt, was derzeit überall in Europa verhandelt wird: Zukunftsfähige Energie, Versorgungssicherheit und Klimaneutralität – große Themen, große Ziele. Sonst klingen sie abstrakt. Doch hier bündeln sie sich in einem einzigen Blickfeld und lassen den Balanceakt der EU-Mitgliedstaaten erahnen.

Zwischen Kreidefelsen und Kälte: Europas neuer Energieblick

Der einheitliche Kurs Europas Richtung Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 – er scheint etwas ins Schlingern geraten. So ringt beispielsweise Italien mit dem Erreichen der Klimaziele, vor allem weil langsame Genehmigungsverfahren den Ausbau von Photovoltaik im Sonnenland verzögert, Polens Politik schwankt zwischen bezahlbarer Kohlesicherheit und Klimazielen. Und Deutschland? Treibt zwar den Ausbau erneuerbarer Energien voran, muss aber zugleich die enormen Kosten des Umbaus anerkennen. Offiziell sind alle Mitgliedsstaaten den Klimaverträgen der EU weiterhin verpflichtet. Doch der Weg dorthin führt immer häufiger über Umwege.

Unter Politikern, Wirtschaft und Bevölkerung wächst die Frage, ob der Kontinent noch auf einem gemeinsamen Kurs ist – oder langsam auseinanderdriftet. Die Gründe für diese Drift: Klimaschutzambitionen, geopolitische Realpolitik und der Wunsch nach wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit. Wohin also steuert Europas Energiepolitik?

LNG: Brückentechnologie oder Sackgasse?

Zurück nach Mukran, in den Hafen und die jüngste Vergangenheit: Eigentlich sollte Flüssigerdgas vor allem als Notfallmaßnahme dienen. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 suchten Deutschland wie ganz Europa nach einer schnellen Alternative zu russischem Gas. Und fanden es in dem auf minus 163 Grad runtergekühlten und somit flüssig gewordenen Erdgas, vor allem aus den USA.



Die im Vergleich zu Pipelinegas höheren Kosten wie auch die Proteste der Anwohner gegen die Lärmbelästigungen der Terminals nahm man in Kauf. Es galt und gilt: Safety first – für die Bürger. Für die Wirtschaft. Für die Stabilität eines Energiesystems, das mit dem LNG-Beschleunigungsgesetz zwar den Betrieb von LNG-Anlagen bis zum Ende des Jahres 2043 erlaubt, den Weiterbetrieb aber an den Umbau der Anlagen für den Wasserstoff-Import Wasserstoff knüpft. Doch angesichts der wirtschaftlichen Herausforderungen für Europa wirkt LNG und anderes fossiles Gas mitunter wie eine geeignete Alternative zum teuren Ausbau alternativer Energien. Ist LNG gekommen, um zu bleiben? Eine Brückentechnologie? Oder eine fossile Sackgasse?

Europas künftige Klimaneutralität

Auf die ökonomischen Fragen kann Sylwia Bialek-Gregory Antworten geben. Die Energieökonomin arbeitet am Energiewirtschaftlichen Institut (EWI) der Universität zu Köln und erstellt regelmäßig Analysen für Politik und Wirtschaft samt LNG-Preisentwicklungen, CO2-Preisprognosen oder Importvolumen. „LNG ist nicht gut oder schlecht“, sagt sie. „Es ist schlicht eine Art Erdgas.“ Und genau das macht es für sie zum Prüfstein: Es ist der Brennstoff der Gegenwart – und der Vergangenheit.

Die entscheidende Frage lautet: Wie kann Klimaneutralität zu einem wirtschaftlichen Standortvorteil werden? Neue Technologien schaffen neue Märkte, neue Märkte schaffen neue Arbeitsplätze. „China investiert nicht aus Gutmütigkeit in Klimatechnologien, sondern aus industriepolitischen Gründen“, sagt Bialek-Gregory. Dagegen versuche Europa, Klima- und Wirtschaftspolitik parallel zu denken – und scheitert oft an der Balance.



Die Balance aber hänge weniger ab von einzelnen fossilen Technologien, sondern von der Stärke und Verbindlichkeit der klimapolitischen Rahmenbedingungen in Europa. Diese Verbindlichkeit hat einen unscheinbaren Namen: ETS2 – das europäische Instrument zur Bepreisung von CO2. Doch derzeit gerät es ins Wanken.

ETS2 unter Druck: Europas Lackmustest

Kaum ist ETS2 beschlossen, steht das System bereits unter Druck: Die Bepreisung von Emissionen aus Verkehr und Gebäuden wurde um ein Jahr auf 2028 verschoben – auf Drängen einzelner Mitgliedsstaaten.

Sylwia Andralojc-Bodych von Germanwatch beobachtet diese Entwicklungen aus ihrem Büro in Berlin. „ETS2 ist ein Lackmustest für Europa“, sagt sie. „Ein ehrliches Klimaschutzinstrument mit ehrlichen Kosten.“ Germanwatch, vor über 30 Jahren in Bonn gegründet, ist einer der prägenden Klima-Thinktanks des Landes. Andralojc-Bodych koordiniert dort den Bereich europäische Klimapolitik und Emissionshandel.

„Wir brauchen eine Klimapolitik, die niemanden zurücklässt“, sagt sie. „Aber dafür muss man die Menschen informieren. Und genau das hat die EU nicht getan.“ Sie weist darauf hin, dass Bürger in Polen Angst vor hohen Heizkosten haben, während Frankreich sich ebenfalls um die sozialen Auswirkungen auf Haushalte und die fehlende Planungssicherheit für Investitionen sorgt. „Wenn es uns nicht gelingt, ETS2 sozial abzufedern, bekommen wir keine Akzeptanz“, sagt sie.



Doch längst ist nicht klar, ob die Mitgliedstaaten den Klimasozialfonds rechtzeitig mit sinnvollen Maßnahmen füllen. Andralojc-Bodych spricht von „kommunikativen Leerstellen“, die Spekulationen und Ängsten Raum geben. Dass die Kommission die Einführung verschoben hat, sieht sie als Warnsignal – ein Hinweis darauf, dass Europa seine eigenen Zusagen wackelig auslegt. „Die EU-Kommission hat in der Kommunikation Nachholbedarf – die Menschen müssen verstehen, was ETS2 bedeutet und warum es wichtig ist.“

ETS2: CO2-Handel für Verkehr und Gebäude

Was ist ETS2?

  • EU-System zur Bepreisung von CO2-Emissionen in Verkehr und Gebäuden
  • Ziel: finanzielle Anreize für klimafreundliche Technologien

Wie funktioniert es?

  • Unternehmen kaufen CO2-Zertifikate für ausgestoßene Treibhausgase
  • Preisgestaltung steuert auf Emissionseinsparungen hin

Sozialer Ausgleich:

  • Einnahmen fließen in den Klimasozialfonds
  • Unterstützung für Haushalte, um Kostenbelastungen abzufedern

Zeitplan:

  • Einführung verschoben auf 2028
  • Nationale Umsetzung erfolgt koordiniert durch EU-Mitgliedstaaten

Für Andralojc-Bodych ist klar: Bleiben klare Regeln und entschlossene Schritte heute aus, gehen wertvolle Jahre für die Klimaneutralität verloren. Denn jede weitere Verzögerung bedeutet mehr Emissionen, höhere gesellschaftliche Kosten – und ein wachsender Vertrauensverlust in die europäische Klimapolitik.

Industrie unter Strom: Wenn Energie zur Standortfrage wird

Während Bialek-Gregory die großen Linien der europäischen Energiepolitik vermisst, zeigt sich die Konsequenz ihrer Analysen in den Werkshallen der Unternehmen – dort, wo Entscheidungen über CO2-Preise, LNG-Importe oder ETS2 unmittelbar auf reale Prozesse treffen. Was in den Modellen des EWI als ökonomischer Trend erscheint, wird für Betriebe zur täglichen Abwägung: Welche Technologie lohnt sich? Welche Investition kann warten? Und welche Abhängigkeiten sind noch tragbar?

Genau an diesem Punkt beginnt die Perspektive von Wilhelm Hahn, Geschäftsführer des mittelständischen Werkzeugherstellers Wiha aus Schonach im Schwarzwald.

Wo Bialek-Gregory mit Daten operiert, sieht Hahn glühenden Stahl, Maschinenwärme und Energiebedarf, der nicht theoretisch ist, sondern physische Voraussetzung seines Geschäfts. In Unternehmen wie Wiha zeigt sich, was europäische Energiepolitik im Kern bedeutet: Sie entscheidet darüber, ob industrielle Wertschöpfung an Orten wie dem Schwarzwald Zukunft hat – oder nicht.

Der Blick aus der Werkhalle: Bürokratie bremst Entscheidungen

Wenn Hahn durch die Produktionshallen führt, wird jede politische Theorie von der Hitze der Öfen übertönt. Stahlstangen glühen, werden abgeschreckt, geschliffen, verformt. Funken regnen auf Stahlplatten, der Geruch von erhitztem Metall hängt schwer in der Luft. Wiha existiert seit über 85 Jahren, ein Schwarzwälder Familienunternehmen, das heute längst ein Global Player ist und neben Deutschland auch in Vietnam und Polen produziert: Allein in Deutschland produzieren und vertreiben über 350 Mitarbeiter Schraubenzieher, Hämmer, Zangen, Spezialwerkzeuge für Elektriker. Hahn führt das Unternehmen in dritter Generation. Und doch ist der zentrale Prozess derselbe wie damals: Stahl muss erhitzt werden, und das kostet Energie — ob in Deutschland, Polen oder Vietnam.

Wie also ist die Perspektive auf ETS-2, hier an der industriellen Basis? „Ein CO2-Preis an sich ist gut“, sagt Hahn. „Aber im Zusammenspiel mit Bürokratie wird er zu einer Projekthürde.“ Er zählt auf: Berichtspflichten, Formularfluten, unterschiedliche Vorgaben zwischen Brüssel und Berlin. „Wir sind ein mittelständisches Unternehmen. Doch die Vorgaben in Brüssel werden vor allem von Juristen entworfen. Da geht der Praxisbezug verloren.”

Energieintensiv: Global Player aus dem Schwarzwald

Werkzeugproduktion bei Wiha. Credit: Wiha


Für Mittelständler wie Wiha sei es wichtig, dass die Politik Rahmenbedingungen verlässlich vorgibt - aber die Wirtschaft ihren Gestaltungsspielraum behält. „Wenn wir über Produktion reden, müssen wir über Energie reden. Und wenn wir über Energie reden, müssen wir über Berechenbarkeit und Kontinuität reden. Und genau die fehlt.“

Auch wenn der Aufschub von ETS2 die neuen Regularien abschwächen könnte – Hahn wird weiterhin abwarten, was Investitionen in CO2-freundliche Technologien angeht. Zu unsicher sei der Ausblick: „Vorauseilender Gehorsam rächt sich dadurch, dass man im Zweifelsfall Dinge doppelt macht oder Gesetze wieder obsolet werden.“ Für viele Unternehmen sei klar: Solange Rahmenbedingungen schwanken, bleibt jede langfristige Entscheidung ein Risiko.

Energiewende zum Anfassen: Warum Akzeptanz vor Ort entsteht

Gleichzeitig wird die Energiewende nicht allein in Fabrikhallen entschieden. Industrie kann nur dann investieren, wenn Politik Verlässlichkeit schafft. Und die Gesellschaft den Wandel mitträgt, vor allem im Alltag, auf Marktplätzen, vor Supermärkten, in Schulen, selbst auf Technofestivals. Überall dort also, wo Felix Dunkl mit dem Energiemobil als Teil des Projekts „Power2Change: Mission Energiewende“ Halt macht.

Gefördert von der Bundesregierung, sucht Power2Change gezielt den Kontakt mit Deutschlands Bürgern. Ziel: Die Energiewende begreifbar zu machen – sei es durch Diskussionsveranstaltungen, Wanderausstellung oder eben wie bei Dunkl als Roadshow.

Unterwegs für die Energiewende: Power2Change

Credit: Ben Böhm / TINCON


Seit 2022 zieht der heute 40-jährige studierte Kulturmanager einen schwarzen PKW-Anhänger durch ganz Deutschland, natürlich per E-Auto. Holpert über Dorfstraßen in der Lausitz, nimmt die Autobahnen Richtung Berlin, überall mit dem gleichen Gepäck: die Energiewende.

Erreichen Dunkl und sein Team Rathausplätze oder Schulhöfe, klappen die Seiten des Anhängers auf, und plötzlich steht da eine kleine mobile Energiewende-Ausstellung. Mehr als 150 Orte hat das Energiemobil bereits besucht. Die Zuschauerzahlen variieren, lägen im Durchschnitt aber bei rund hundert Personen pro Einsatz.

Energiewende ist überall

Die Wirkung ist fast immer dieselbe: Menschen bleiben stehen. Manche aus Neugier; andere, weil sie zufällig vorbeikommen und sich dann für die aufgebauten Experimente interessieren: per BMX-Rad wird Wasserstoff erzeugt, eine VR-Brille veranschaulicht die komplexen Prozesse der Energiewende, ein 3D-Drucker erschafft aus recycelten Materialien Bauteile für ein Windrad. Niedrigschwellig, anschaulich, greifbar – so soll das Energiemobil abstrakte Begriffe und Schlagworte in Wirklichkeit verwandeln.

In zahlreichen Gesprächen auf den Dorfplätzen geht es dann um Wärmepumpen, Strompreise, lokale Energieprojekte oder die Geschwindigkeit der politischen Entscheidungen. Dunkl berichtet, dass viele Menschen der Energiewende grundsätzlich offen gegenüberstehen, aber frustriert über die Umsetzung sind. Häufiger als Skepsis begegnet ihm die Bitte um Orientierung: Welche Technologie passt zu welchem Haus? Warum dauert der Netzausbau so lange? Wieso gibt es so viele widersprüchliche Informationen?



Für Dunkl zeigt sich in diesen Einsätzen, dass Informationslücken und Unsicherheiten oft nicht aus Ablehnung entstehen, sondern aus fehlenden Gelegenheiten, Technik im Alltag zu erleben. Und den persönlichen Nutzen. „Viele fragen sich einfach, warum bei ihnen vor der Tür ein Solarpark entstehen soll. Aber die Strompreise in der Region dennoch hoch bleiben.” Das Energiemobil bietet genau diese Anknüpfungspunkte: ein Angebot, bei dem Menschen Fragen stellen können, ohne sich durch komplizierte Dokumente oder politische Programme arbeiten zu müssen. „Wenn Menschen selbst etwas ausprobieren, verlieren sie die Angst und bekommen Lust auf neue Technologien“, sagt Dunkl.

Und so scheint Dunkl auf den Marktplätzen des Landes im Kleinen zu erleben, was Europa im Großen beschäftigt: Es mangelt nicht an Bereitschaft, manchmal aber an Vertrauen. Menschen wollen wissen, worauf sie sich einstellen müssen – bei Kosten, Technologien, politischen Entscheidungen.

Wenn dies gelingt, gelingt auch die europäische Energiewende.

Mehr zur Energiewende

Energiewende im Labor: Klein, aber oho! – Kurs Klimaneutralität. Ein großes Ziel, dessen nächste Schritte im Kleinen längst begonnen haben - in den Laboren. Zum Feature

 Wärmewende in Deutschland – Wie Server, Flüsse und Geothermie die Zukunft heizen. Mehr erfahren

Stromsystem: Das Auge des Netzes – Wie Menschen, Algorithmen und Häuser gemeinsam das Stromsystem im Gleichgewicht halten. Zum Beitrag


Zurück zum Magazin-Schwerpunkt „Europe Calling“

Suche