Schleswig-Holstein ist das Energiewendeland Deutschlands – das Kraftwerk der Republik. Bereits seit den 1980er Jahren verwandeln wir unseren reichlich vorhandenen Küstenwind in saubere, erneuerbare Energie. Heute erzeugen wir rund doppelt so viel Strom aus Sonne, Wind und Biomasse, wie im Land selbst verbraucht wird. Damit ist Schleswig-Holstein ein gern gesehener Strom-Exporteur: An rund acht Monaten im Jahr liefern wir überschüssige Energie – insbesondere in die Ballungsräume im Westen und Süden Deutschlands. Übrigens auch in Regionen, die sich beim Ausbau der Windkraft in den letzten Jahren eher zurückgehalten haben.
Dank einer konsequenten Energiewendepolitik schreitet der Netzausbau rasch voran. Trotz des dynamischen Zubaus an erneuerbaren Anlagen sind die Abregelungen innerhalb von nur vier Jahren um mehr als 70 Prozent zurückgegangen – ein beachtlicher Erfolg, der zugleich Kosten senkt.
Sektorkopplung – das fehlende Puzzlestück
In der Stromerzeugung und beim Infrastrukturausbau hat Schleswig-Holstein seine Hausaufgaben gemacht. Doch beim Hochlauf von Elektrolyseuren, der Elektrifizierung industrieller Prozesse, der Mobilitäts- und Wärmewende muss es noch schneller vorangehen. Noch gelingt es uns nicht, den wachsenden Überschuss an grünem Strom in nennenswertem Umfang in diesen Bereichen zu nutzen.
Die zentrale Herausforderung der Energiewende in unserem Land ist daher die unzureichende Sektorkopplung – das dritte, bislang unvollständige Puzzlestück. Vor diesem Hintergrund mehren sich die Stimmen, die angesichts vermeintlich unzureichender Infrastruktur vor einem „kopflosen“ Ausbau der Erneuerbaren warnen. Das jedoch ist aus meiner Sicht eine ebenso fatale wie ärgerliche Fehleinschätzung.
Ich erinnere mich gut an die Monate nach Beginn des russischen Energiekrieges gegen Europa – damals konnte es uns allen nicht schnell genug gehen mit dem Ausbau der „Freiheitsenergien“. Genau diesen Elan brauchen wir jetzt wieder, für den Ausbau der Erneuerbaren Energien ebenso wie für die Sektorenkoppelung. Denn unser Ziel bleibt klar: Wir wollen und wir müssen klimaneutral werden. Schleswig-Holstein kann dabei nicht nur beim Kohleausstieg bundesweit unterstützen, sondern auch vor Ort zur Dekarbonisierung von Verkehr und Gebäuden beitragen. Vor allem aber müssen wir jetzt konsequent den Wasserstoffhochlauf vorantreiben. Unser Land bietet ideale Bedingungen für die Erzeugung von kostengünstigem grünem Strom – und damit auch für wettbewerbsfähigen, grünen Wasserstoff, der ganz Deutschland versorgen kann.
Unabhängigkeit stärken, Wirtschaft ankurbeln
Die Energiewende steht nicht nur für ökologische Verantwortung, sondern auch für mehr Resilienz und Sicherheit – denn sie verringert unsere Abhängigkeit von Energieimporten, insbesondere aus Russland. Darüber hinaus ist sie Motor eines wirtschaftlichen Aufbruchs – bundesweit und in Schleswig-Holstein.
Jahr für Jahr werden bei uns Investitionen im Milliardenbereich in erneuerbare Energien genehmigt. So ging Anfang Juni in Bollingstedt der derzeit größte Batteriespeicher Deutschlands ans Netz – mit 103,5 Megawatt Leistung und 238 Megawattstunden Speicherkapazität. Industrieunternehmen entwickeln ihre Pläne für eine klimaneutrale Produktion bis 2040, Kommunen erarbeiten lokale Wärmepläne, die neue Investitionen auslösen.
In Brunsbüttel entstehen beispielhafte Projekte: Covestro baut eine innovative Wärmebatterie, Copenhagen Infrastructure Partners plant einen Elektrolyseur für grünen Wasserstoff, Yara betreibt bereits ein Ammoniak-Importterminal und Holcim investiert in einen klimaneutralen Zementofen.
Erneuerbare Energie als Zukunftsantrieb
All diese Entwicklungen wären ohne das umfangreiche Angebot an sauberem Strom nicht möglich. Er bildet die Grundlage für neue Geschäftsmodelle und hat vielen zuvor strukturschwachen Regionen in Schleswig-Holstein neuen Schwung verliehen. Die Energiewende genießt im schleswig-holsteinischen Landtag breite parteiübergreifende Unterstützung – trotz aller Veränderungen im Landschaftsbild.
Um den Stromverbrauch im Land weiter zu erhöhen und die Ansiedlung industrieller Betriebe zu fördern, errichten TenneT und SH Netz aktuell 20 neue Umspannwerke. Die Netzbetreiber in Schleswig-Holstein haben bereits Anfragen für mehr als 20 Gigawatt Netzanschlussleistung erhalten. Parallel schafft die Landesregierung rund um die neuen Umspannwerke Flächen für klimaneutrale Industrieansiedlungen. So können Elektrolyseure, Rechenzentren oder energieintensive Betriebe sich direkt anschließen und günstigen Grünstrom nutzen – eine Chance für Tausende klimaneutrale Arbeitsplätze, die ihrerseits zur weiteren Dekarbonisierung der Wirtschaft beitragen. Damit schaffen wir die Grundlage für ein gutes, nachhaltiges Leben für viele Menschen und Familien im echten Norden.
Ein Markt für die Sektorkopplung
Entscheidend ist jetzt ein Marktrahmen, der die Sektorkopplung marktgetrieben in Schwung bringt. Fossile Energieträger werden dauerhaft teuer bleiben – und immer teurer werden, auch durch die CO₂-Bepreisung. Umso wichtiger ist die Strompreis-Entlastung, wie sie im Koalitionsvertrag angekündigt wurde: Sie macht elektrische Energie wettbewerbsfähiger.
Besonders notwendig für diese Transformation und die Akzeptanz sind regionale Preissignale. Es darf nicht sein, dass günstiger Wind- und Sonnenstrom bei den Menschen vor Ort, bei Wärmepumpen, E-Autos und in der Industrie nicht entsprechend preiswert ankommt. Der Strommarkt muss reale Preisunterschiede abbilden – sei es durch eine Preiszonentrennung oder andere geeignete Mechanismen.
In den kommenden Jahren wird – zu Recht – wieder stärker über die Kosteneffizienz im Stromsektor diskutiert werden. Das ist wichtig – im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher ebenso wie für die Wettbewerbsfähigkeit von grünem Strom. Zahlreiche Ideen liegen auf dem Tisch: Einsparpotenziale sehe ich etwa in einer Offshore-Planung, die auf Ertrag statt auf maximale installierte Leistung ausgerichtet ist. Auch nach Systemdienlichkeit gestaffelte Baukostenzuschüsse, Flexibilitätsanreize in der Industrie, die Überbauung von Netzverknüpfungspunkten und mehr Kooperation zwischen Netzbetreibern sind sinnvolle Ansätze – ebenso wie ein reformiertes Marktdesign.
Doch nicht jeder Vorschlag zur Kostenersparnis ist auch ein guter: Skeptisch sehe ich etwa eine mögliche Rückkehr von Erdkabeln zu Freileitungen im Übertragungsnetz. Das wäre ein teurer Rückschritt – und würde viel gesellschaftliche Akzeptanz kosten.
Die Herausforderungen sind zahlreich – aber sie sind vor allem Chancen: Für unsere Wirtschaft, für die Menschen in unserem Land und für den Schutz unseres Klimas. Schleswig-Holstein kann zeigen, wie ambitionierte Klimapolitik und wirtschaftliche Stärke Hand in Hand gehen.
Tobias Goldschmidt (Bündnis 90/Die Grünen)
ist seit dem 29. Juni 2022 Minister für Energiewende, Klimaschutz, Umwelt und Natur des Landes Schleswig-Holstein. Zuvor war er von 2017 bis 2022 Staatssekretär im Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung des Landes Schleswig-Holstein.
Energiewende im Süden: Chancen und Herausforderungen in Bayern – Gastbeitrag von Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (FW)
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