Acht ikonische Kühltürme – jeder 114 Meter hoch – prägten jahrzehntelang die Landschaft in der Nähe von Nottingham. Dampfschwaden steigen hier nicht mehr auf. Am 30. September 2024 stellte das Kohlekraftwerk Ratcliffe-on-Soar als letztes in Großbritannien den Betrieb ein. Nach über 140 Jahren ging damit eine Ära zu Ende: Großbritannien ist der erste G7-Staat, der keinen Strom mehr aus Kohle erzeugt. 2013 wurde die Produktion durch Sondersteuern verteuert, zwei Jahre später der Ausstieg aus der Kohle beschlossen. Kühltürme und andere Gebäude in Ratcliffe werden nun abgerissen. Der Eigentümer, die deutsche Firma Uniper, will dort einen „clean energy park“ errichten.
Ambitionierte Ziele
Großbritannien hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt und will weltweit eine führende Rolle bei der Energiewende einnehmen. Bis 2030 soll die Stromerzeugung komplett dekarbonisiert sein, zehn Jahre früher als in der Europäischen Union. Bis 2050 soll das Netto-Null-Emissionsziel erreicht werden – dazu verpflichtet das Pariser Klimaschutzabkommen. „Unsere Mission, Großbritannien zu einer Supermacht für saubere Energie zu machen, wird unsere industriellen Kerngebiete beflügeln und Wachstumsbarrieren in unseren hart arbeitenden Städten und Gemeinden abbauen“, sagte Premierminister Keir Stamer Ende 2024. Große Ziele: Doch sind sie auch realistisch?
Um sie zu erreichen, wurde ein neuer Staatskonzern gegründet: die „Great British Energy“. Das Unternehmen arbeitet mit Gemeinden vor Ort zusammen und verfügt in dieser Legislaturperiode über Finanzmittel in Höhe von 8,3 Milliarden Pfund. Der National Wealth Fund ist mit 7,3 Milliarden Pfund ausgestattet und soll zukunftsfähige Industrien fördern: etwa CO2-Speicherung und grünen Wasserstoff.
Außerdem wurde im Dezember 2024 der „Clean Power Action Plan“ vorgestellt, dessen Kernpunkte eine verstärkte Stromerzeugung im eigenen Land sowie ein massiver Ausbau von Solar- und Offshore- sowie Onshore-Windenergie sind. Außerdem sollen Baugenehmigungen schneller erteilt, die Wartezeiten für den Netzanschluss deutlich verkürzt sowie die Energiespeicherung und Infrastruktur verbessert werden. Keine schlechte Idee in einem Land, in dem die Wartezeit auf einen Netzanschluss für Unternehmen derzeit rund 15 Jahre beträgt.
Ratcliffe-on-Soar: Großbritanniens letztes Kohlekraftwerk seit 2024 vom Netz
Das Kohlekraftwerk Ratcliffe-on-Soar ging 1967 in Betrieb und wurde am 30. September 2024 als letztes vom Netz genommen. Copyright: Uniper SE
Die britischen Gaskraftwerke bleiben hingegen erhalten. Wenn Wind und Sonne nicht zur Verfügung stehen, sollen sie die Versorgungssicherheit gewährleisten. Der Einsatz wird jedoch auf maximal fünf Prozent der Gesamtstromerzeugung reduziert. Die Regierung geht davon aus, dass der Stromverbrauch bis 2030 durch die Elektrifizierung von Verkehr, Wärme und Industrie um elf Prozent steigen wird.
Anteile am Strommix
2024 wurde zum ersten Mal der meiste Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt: 50,8 Prozent. Das waren 144,7 Terawattstunden. Den größten Anteil machte die Windkraft aus, Stromimporte und Atomenergie lagen bei jeweils etwa 14 Prozent.
Anders als die Bundesrepublik setzt Großbritannien weiter auf Atomenergie. Derzeit sind neun Kernkraftwerksblöcke an vier Standorten in Betrieb. Zwei neue Reaktoren sind im Bau, drei weitere geplant. Das Problem hierbei: Die Kosten steigen stark. Seit Baubeginn sind sie beim Reaktor Hinkley Point C in Südwest-England von 21 Milliarden Euro auf 38 Milliarden gestiegen. Nach Fertigstellung dürfte das dazu führen, dass dort das teuerste Atomkraftwerk der Welt entstanden ist. Außerdem will die Regierung den Bau sogenannter Small Modular Reactors (SMR) erleichtern, die es bisher auf der Insel nicht gibt. Wie in Deutschland hat auch Großbritannien noch kein Endlager für den Atommüll gefunden. Denn keine Region will es haben – ebenfalls wie in Deutschland.
Offshore-Windkraft soll sich bis 2030 verdreifachen. „Die britische Insel ist schon jetzt der zweitgrößte Offshore-Windmarkt der Welt nach China“, sagt Marc Lehnfeld von der bundeseigenen Gesellschaft Germany Trade and Invest (GTAI). Das macht Großbritannien auch für deutsche Unternehmen interessant. Bereits heute ist RWE der größte Stromerzeuger und versorgt etwa 12 Millionen britische Haushalte mit Strom. In den kommenden Jahren sollen acht Milliarden Euro netto in neue Windparks, Solarprojekte und Energiespeicher investiert werden. Eines der größten Vorhaben ist der Bau eines Offshore-Windparks vor der britischen Ostküste auf der Doggerbank mit einer Kapazität von 1,4 Gigawatt. Auch EnBW entwickelt drei Windfarmen an der britischen Küste. Deutschland und Großbritannien wollen zudem ihre Energienetze mit einem 725 Kilometer langen Unterwasserstromkabel verbinden. Dieser sogenannte Interkonnektor kann bis zu 1,4 Gigawatt Strom in beide Richtungen transportieren – genug für 1,5 Millionen Haushalte.
Welche Herausforderungen gibt es?
Die Herausforderungen der Energiewende in Großbritannien ähneln jenen in Deutschland: 2024 mussten britische Windparks zeitweise ihre Stromproduktion drosseln. Um die Anlagenbetreiber für das Abschalten zu entschädigen, zahlte der Staat über eine Milliarde Pfund. Gleichzeitig konnten erneuerbare Energien den Strombedarf nicht durchgehend decken. Anfang Januar 2025 stieg der Verbrauch witterungsbedingt stark an, doch die Windkraft lieferte nicht genügend Energie. In der Folge sprangen zwei Betreiber von Gaskraftwerken ein – zu hohen Kosten: Das Vitol-Kraftwerk nördlich von London verlangte über 5.000 Pfund pro Megawattstunde, das Uniper-Kraftwerk in Nordwales rund 2.900 Pfund.
Hierbei wurde ein Problem deutlich, dass Großbritanniens Energiebranche beschäftigt: Es fehlt derzeit an leistungsfähigen Speichermöglichkeiten, um überschüssigen Wind- und Solarstrom langfristig zu sichern. Ein weiteres Problem sind gestiegene Kosten, die vor allem die Windenergie-Branche unter Druck setzen. Der dänische Ørsted-Konzern wollte vor der Küste von Yorkshire den bereits bestehenden Windpark zum größten in Europa ergänzen. Weitere 180 Windräder sollten in der Nordsee gebaut und ab 2030 mehr als eine Million Haushalte mit Strom versorgen. Doch im Frühjahr 2025 wurde das Projekt gestoppt. Als Gründe nannte das Unternehmen „ungünstige makroökonomische Entwicklungen“, massive Kostensteigerungen und Lieferkettenprobleme.
Der Weg zur Klimaneutralität im Energiesektor – er erscheint in Großbritannien an manchen Stellen durchaus noch steinig.
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