Elektromobilität nach Maß

Wie man ein elektrisches Lieferfahrzeug baut, das Nutzer, Controller und die Umwelt zugleich erfreut, beweisen die RWTH Aachen und die Deutsche Post DHL Group. Zu Besuch bei dem Aachener Unternehmen und der Post-Tochter StreetScooter.

StreetScooter

© StreetScooter

Jülicher Straße 213 in Aachen. In den roten Backsteinhallen des ehemaligen Waggonherstellers Talbot verlassen täglich bis zu 40 Lieferfahrzeuge der Marke StreetScooter die Produktion. Die Serienherstellung begann 2013: nur zwei Jahre nachdem das Unternehmen auf der IAA einen selbst entwickelten Prototypen für ein elektrisches Fahrzeug vorgestellt hatte. Wir treffen Prof. Dr.-Ing. Achim Kampker, der heute Geschäftsführer von StreetScooter und momentan als Professor an der RWTH beurlaubt ist.

Dass Kampker einmal für die Deutsche Post Fahrzeuge produzieren würde, hatte er sich nicht unbedingt träumen lassen - dazu bedurfte es der einen oder anderen Fügung. Doch bevor Achim Kampker uns davon berichtet, schließt er einen StreetScooter auf - es geht auf eine Probefahrt.

Der StreetScooter Work mit einem Leergewicht von über 1,4 Tonnen und einer maximalen Zuladung von 740 Kilogramm wirkt von außen wie ein ganz normaler Transporter. Auch innen keine Überraschungen - nur dass es ein digitales Anzeigeinstrument und einen dreistufigen Schalthebel gibt, mit dem zwischen Parkposition, Vorwärts und Ruckwarts gewechselt wird. Eine Runde über den Aachener Grabenring zeigt: Der StreetScooter beschleunigt agiler als so manch ein Benziner, die Bremswirkung der Energieruckgewinnung beim Gaswegnehmen ist angenehm sanft und ruckelfrei.

Und aufgrund des getriebelosen Elektroantriebs muss nicht geschaltet werden - im Stop-and-go-Betrieb ein echter Mehrwert. Die Maximalgeschwindigkeit von 85 Stundenkilometern genügt innerhalb der Stadt völlig und die Ruhe im "Leerlauf" (beispielsweise im Stau) überträgt sich nach kurzer Zeit auch auf den Fahrer. Ja, dieser Wagen fühlt sich gut an.

Ein Auto als Case

Zurück im Büro von Achim Kampker. Wie fing alles an? "Wir haben an unserem Lehrstuhl einen industriellen Prozess- und Fertigungsansatz namens Return on Engineering entwickelt, der konventionelle Top-down-Ansätze in puncto Wirtschaftlichkeit und Geschwindigkeit bedeutend übertrifft. Wir wollten zeigen, dass man auch komplexe Produkte schneller, besser und kostengünstiger fertigen kann", so Achim Kampker. "Um zu beweisen, dass dieser Ansatz auch in der Praxis funktioniert, brauchten wir einen Anwendungsfall, also ein echtes, industriell gefertigtes Produkt." Schnell fiel die Wahl auf ein Auto - denn ein solches Produkt muss nun mal niemandem erklärt werden.

"Ein Verbrenner wäre uns aber nicht innovativ genug gewesen, daher setzten wir auf das Thema bezahlbare E-Mobilität", so Kampker. Der zentrale Ansatz von Kampker und seinen Kollegen: Ähnlich wie in der agilen Softwareentwicklung werden die unterschiedlichen technischen und konzeptionellen Teilaspekte des Fahrzeugs parallel und kleinschrittig entwickelt - in Workshops mit Nutzern und Zulieferern und unter möglichst frühem Einsatz von Primotypen, einfach und schnell herzustellenden Prototypen. Jedes Element, zum Beispiel der Aufbau, wurde möglichst früh in einer Erstfassung gefertigt und im Dialog mit Zulieferern und Anwendern optimiert. So entstand für die Postauslieferung ein Aufbau, der sich von drei Seiten beladen lässt, der Fahrer unabhängig von der Parkplatzsituation vor Ort be- und entladen kann. Eine weitere, wichtige Regel: Technische Exzellenz wird überall dort gepflegt, wo es notwendig ist - bei der Sicherheit, der Langlebigkeit und der Nutzerfreundlichkeit. So hat der StreetScooter eine leidensfähige Stoßstange und besonders stark belastbare Türscharniere; alle Teile, die bei Bagatellunfällen schnell einmal kaputtgehen, sind leicht ersetzbar. In der Logistikbranche weniger wichtige Details, wie auf den Mikrometer genaue Spaltmaße, werden hingegen nicht bis zur Perfektion getrieben, denn sie sind für den Auslieferfahrer irrelevant.

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Quelle: StreetScooter

Die Post wird neugierig

Als Kampker und sein Team 2011 ihr erstes Fahrzeug, ursprünglich einen Pkw, auf der IAA vorstellten, weckten sie das Interesse der Deutschen Post DHL Group. Jürgen Gerdes, seit 2007 Vorstandsmitglied der Deutschen Post, sah die große Chance, mit dem Street- Scooter die selbstgesteckten Klimaziele zu erreichen. Nach einer ersten Kooperationsphase erwarb die Post das Unternehmen im Jahr 2014 und machte Kampker zusätzlich zum Geschäftsbereichsleiter E-Mobilität im Unternehmensbereich Post - eCommerce - Pardel von Deutsche Post DHL Group. Damit war die Zukunft für StreetScooter nicht nur gesichert, es gab jetzt auch einen klaren Fokus auf Nutzfahrzeuge: Der StreetScooter kann nach dem Baukastenprinzip speziell für den jeweiligen Anwendungszweck gebaut werden - ganz gleich, ob später Post, Brötchen oder Tiefkühlwaren ausgeliefert werden sollen. Elektrische Lasten-Pedelecs erweitern das Portfolio.

Ein Blick in die Zukunft

Kampker ist sichtlich zufrieden: "Wir haben gezeigt, dass sich ein Paradigmenwechsel weg vom ingenieurgetriebenen ›höher, schneller, weiter‹ lohnt. In enger Kooperation mit Anwendern und Zulieferern lassen sich Fahrzeuge für den jeweiligen Nutzungszweck maßschneidern." Die Zukunft für das Unternehmen sieht gut aus: Neben weiteren Kooperationen, unter anderem mit dem Hersteller Ford, der das Fahrgestell für den neuen großen E-Transporter StreetScooter Work XL stellt, wird 2018 in Düren eine weitere Produktionsstatte in Betrieb genommen. In den beiden Werken in Aachen und Düren sollen jährlich 20.000 Fahrzeuge gefertigt werden können.

Text: Jochen Reinecke


Fotos: 1) Der StreetScooter: Entwickelt in Aachen, gefertigt im Aachener Talbot-Werk. 2 und 3) Nicht nur in Gelb erhältlich: der StreetScooter und ein Lasten-Pedelec aus Aachen. (Quelle: Streetscooter)

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