Kundendaten – Quelle für Energieversorger

Lukrativer Informationsschatz oder Suche nach der Nadel im Heuhaufen? Was bedeutet die Datenflut für Energieversorger? Big Data im Mythencheck.

Es klingt verführerisch: Wer so viele Daten wie möglich abgreift, weiß über alle Vorgänge sowohl im Unternehmen als auch bei seinen Kunden und Geschäftspartnern Bescheid, zieht die richtigen Schlüsse daraus und steigert seine Produktivität schlagartig. Das zumindest erhoffen sich viele Firmen vom Hightech-Schlagwort „Big Data“ – meist vereinfachend übersetzt als „viele Daten“. IT-Experten wie der US-Amerikaner Geoffrey Moore warnen sogar: „Ohne Big Data zu sein, ist wie blind in der Mitte einer Autobahn zu stehen.“ Aber stimmt das überhaupt? Gilt die Formel „Viel hilft viel, doch mehr hilft mehr.“ auch für die Unternehmen der Energiewirtschaft? Stehen die Unternehmen der Strom-, Gas- und Wasserbranche vor einer Datenrevolution mit all ihren Chancen und Risiken? Tatsache ist, dass in kaum einer anderen Branche solch riesige Datenmengen anfallen: Jedes Kraftwerk misst, was es produziert, liefert und in Rechnung stellt. Es kontrolliert ständig die Leistung seiner Pumpen, Turbinen und Leitungsnetze. Jeder Energie- und Wasserversorger besitzt schon jetzt durch ganz simple Kundendaten einen Quell an Informationen.

Wachsende Flut an Daten für Energieversorger

Doch das ist erst der Anfang. Ausgelöst durch die Energiewende müssen sich die Versorgungsunternehmen gigantischen neuen Daten-Herausforderungen stellen:

  • Immer mehr Strom aus Windturbinen und Sonnenkollektoren fließt in die Netze.
  • Viele Privathaushalte beziehen nicht nur Strom, sie erzeugen ihn auch selbst und liefern ihn den Energieversorgern. Diese Konsumenten werden zu sogenannten Prosumenten.
  • Die Kunden sollen künftig durch Smart Meter individuelle Strom­tarife bekommen, damit sie ihren Verbrauch den unterschiedlich hohen Tagespreisen anpassen können.
  • Bis 2020 sollen 80 Prozent der EU-Haushalte mit diesen intelligenten Stromzählern ausgerüstet sein. Das sind allein in Deutschland gut 40 Millionen Kunden.
  • Diese 40 Millionen Smart Meter werden ständig aktuelle Verbrauchswerte senden. Manche sogar mehrmals am Tag. Statt eines Messwertes pro Kunde und Jahr werden die Energiekon­zerne jeden Tag insgesamt 3,8 Milliarden Datensätze empfangen, pro Jahr 1,4 Billionen. Und die Daten aus der Industrie sind dabei noch gar nicht berücksichtigt.
  • Die Zahl der Daten durch interne und externe E-Mails, digitale Dokumente und die Kommunikation der Computer untereinander („Machine-to-Machine“) steigt drastisch.
  • Hinzu kommt eine Flut an unstrukturierten neuen Daten aus den sozialen Medien, die Unternehmen durch Business‑Analytics-Programme herausfiltern können.

Der Datenschatz der Energiewirtschaft

Klar ist, dass diese Datenmasse extrem wertvolle Informationen für die Energiebranche enthält. Wer es schafft, diese Bestände sicher zu speichern, schnell zu sichten, effektiv zu ordnen und die richtigen Schlüsse zu ziehen, verschafft sich einen klaren Wettbewerbsvorteil. Michael Neff , Geschäftsführer der RWE IT GmbH, sieht die größten Potenziale für Big Data im Vertrieb sowie im Kontakt zu Unternehmen und Verbrauchern: „Big Data wird die Genauigkeit der Vorhersage von Kundenverhalten und Kundenbedarf signifikant verbessern.“

Vorteile und Nutzen der Digitalisierung

Datenvielfalt und Digitalisierung nützen allen: der Energiewirtschaft und ihren Kunden. Denn wenn die Unternehmen die Produktion und den Verbrauch von Energie in Echtzeit analysieren, können sie den aktuellen und künftigen Bedarf besser abschätzen. Ein Beispiel: Für einen Feiertag werden viel Sonne und Wind prognostiziert, die Stromerzeugung würde steigen, der Verbrauch wegen der Freiluftaktivitäten der Kunden sinken. Dank Big Data könnten sich die Unternehmen auf dieses Szenario vorbereiten. Sie nutzen die Wettervorhersage, um ihre Anlagen auf die Produktion zusätzlicher erneuerbarer Energie einzustellen und die überschüssige Energie zu lagern – in Speichern oder den Batterien von E-Autos. Und als Zukunftsvision könnten die Kunden dann womöglich wegen des kurzzeitigen Stromüberschusses von Sonderangeboten profitieren. Durch Big Data lassen sich zudem teure Versorgungsengpässe vermeiden. Immer mehr Produktionsanlagen kommunizieren miteinander. Ein mögliches Anwendungsfeld: Muster in den Betriebsdaten eines Kraftwerksblocks zu finden, die vor einer Überhitzung der Druckkessel warnen. „Informationen sind das Öl des 21. Jahrhunderts und die Daten-Analyse ist der Motor“, schwärmt Peter Sondergaard vom Forschungsinstitut Gartner.

Große Datenmenge, großes Missverständnis?

Bleibt die Frage: Wenn das Sammeln und Analysieren möglichst vieler Daten so viel Nutzen stiftet, warum machen es dann nicht einfach alle? Weil es leider nicht so einfach ist. Die Einschätzung „Viel hilft viel.“ galt früher für den Einsatz von Dünger in der Landwirtschaft. Heute weiß man: Es war ein Fehler. Zu viel Dünger laugt den Boden aus, macht ihn sogar unfruchtbar. Ähnliches gilt auch für das Anhäufen von Daten: Ein Unternehmen kann in seinem Datenüberfluss ertrinken – wenn es nicht richtig sammelt und analysiert. „Viel hilft nicht viel“, warnt Prof. Wolfgang Marquardt , Chef des Forschungszentrums Jülich, im Magazin „Medica“. „Wir können im Prinzip beliebig viele Daten erzeugen, ohne dass sie Informationen erhalten. Man muss die richtigen Daten haben, die einen Mehrwert bieten und qualitativ hochwertig sind.“ Man muss sich vorher überlegen, was man wissen will. Welche Informationen man für ein neues Geschäftsmodell oder eine neue Leistung, die man erbringen will, denn bräuchte. Und man braucht Vorkenntnisse, um Daten zu sortieren. Es wäre aussichtslos, die berühmte Nadel im Heuhaufen zu suchen, ohne zu wissen, wie sie aussieht. Dr. Wolfgang Heuring , Leiter der Siemens Konzernforschung: „Um solche Datenmengen richtig auswerten zu können, muss man sie verstehen.“

Herausforderung: Digitaler Kunde

Im Zentrum der Digitalisierung durch Big Data steht der Verbraucher. Dieser moderne Kunde ist aber nicht mehr passiv, sondern „omnipräsent, individuell, vergleichend und preissensitiv“, beschreibt Johannes Kempmann, Präsident des BDEW, den Typus des Konsumenten 2.0. „Aber noch viel wichtiger, er ist nicht mehr geduldig oder verbindlich. Die Energieversorger müssen daher flexibler, schneller und kommunikativer mit ihren Kunden interagieren.“ Durch den richtigen Einsatz von Big Data werden die Unternehmen die Konsumenten besser kennenlernen. Sie können ihnen wirklich individuelle Leistungen anbieten: Zu wem passt welcher Tarif, welches Detail fehlt noch, wie hat sich die Stimmung des Kunden verändert, wer könnte zu einem Konkurrenten wechseln? So wie inzwischen fast jeder dritte Verbraucher. Wer Informationen clever nutzt, kann sein Geschäftsmodell erweitern – etwa durch Dienstleistungen. So wie British Gas. Der Konzern verbündete sich 2012 mit dem Start-up AlertMe – einem Experten für Smart‑Home-Technologie. Gemeinsam entwickelten die beiden Firmen unter anderem einen intelligenten Wärme-Thermostat. British Gas verkauft heute rund 200.000 Stück pro Jahr und eroberte einen Marktanteil von 29 Prozent – so eine Analyse der Unternehmensberatung PwC. 2015 übernahm British Gas AlertMe und offeriert den Kunden seither weitere Services rund um das Smart Home: Wartung von Heizung und Elektronik, Klempner- und Installateurarbeiten sowie eine Hausratversicherung. 30 Prozent der Kunden nutzen diese energienahen Dienstleistungen. Noch einen Schritt weiter geht ein italienischer Energieversorger. Das Unternehmen nutzt aufwendige Datenprogramme („Advanced Data Analytics“), um seine Kunden in verschiedene Segmente aufzuteilen (zum Beispiel wohlhabende Familie, preisbewusster Student, technikbegeisterter Neuinteressent), Verhaltensmuster zu erkennen und die Verbraucher besser zu verstehen. So offeriert man etwa Bestandskunden beim Umzug unaufgefordert neue Produkte und Dienstleistungen. Unzufriedene Studenten, die durch Kritik in sozialen Medien auffallen, bekommen das Angebot eines neuen, günstigeren Ausbildungstarifs. Und potenzielle neue Kunden umwirbt man mit einer kostenlosen Prüfung der Energieeffizienz ihres Haushalts.

Jahrhundertchance für Energieversorger

Fest steht: Big Data ist kein Allheilmittel. Aber richtig angewandt und in ertragreiche Geschäftsmodelle übersetzt, eröffnet es den Energieunternehmen neue Möglichkeiten. Nach einer Studie des Business Application Research Center (BARC, 2015) berichten 69 Prozent der Firmen, die Big Data nutzen, von besseren strategischen Entscheidungen, steigenden Umsätzen und sinkenden Kosten. Prof. Björn Bloching, Unternehmensberater bei Roland Berger und Co-Autor des Buches „Smart Data – Datenstrategien, die Kunden wirklich wollen“, beschreibt die enormen Chancen des Datengoldes: „Aus einzelnen Smart-Data-Projekten entsteht bei systematischem Vorgehen ein selbstlernendes System. Immer mehr Menschen und Abteilungen des Unternehmens lernen, Kundendaten immer intelligenter zu nutzen. Das Gelernte wird zum Automatismus.“

Smart Data statt Big Data

Was aber bedeutet Smart Data für die Energieversorger? Im Kern: aus vielen Informationen die schlauen Informationen herauszufiltern. „Daten an sich haben zunächst keinen Wert“, betont Dr. Wolfgang Martin, Experte für Analytik und Business Intelligence, in einer Zeitschrift des US-Konzerns IMS. „Erst wenn man sie analysiert, interpretiert und nutzt, veredelt man sie.“ Übertragen auf die Bedürfnisse der Energiebranche heißt das: Unternehmen sollten sich vor dem Zusammentragen von Daten darüber klar werden, welche Informationen sie sammeln, welche davon eine Analyse lohnen, was sie mit dem gespeicherten Wissen erreichen wollen – und vor allem: wen.


Zum Autor: Uli Dönch ist Wirtschaftsexperte und arbeitet als freier Autor. Davor leitete er das Wirtschaftsressort des Nachrichtenmagazins FOCUS.

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