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Ausbau Infrastruktur:

„Nicht immer gleich das ganz große Rad drehen.“

Energie, Breitband, Verkehr: Die Herausforderungen ähneln sich. Kerstin Andreae im Gespräch mit Ina-Maria Ulbrich und Dr. Wolfgang Stölzle.

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© Robert Albrecht/BDEW

Wo müssen wir beim Erhalt oder Ausbau kritischer Infrastrukturen besser werden? Wo ist der Schmerz aktuell am größten? 
KERSTIN ANDREAE: Wir haben eine sehr hohe Versorgungssicherheit in Deutschland, das gilt für Strom, Wärme, Erdgas- und Wasserversorgung gleichermaßen. Nun ist es aber bei der Versorgungssicherheit immer so: Solange alles gut läuft, nimmt kaum jemand die Mühe wahr, die dahintersteckt. Denn natürlich gibt es einen enormen Investitionsbedarf für die ständige Ertüchtigung, den Ausbau, aber auch den Umbau von Infrastrukturen.

Das wirft zwei Fragen auf: Stimmen die Bedingungen für Investitionen, so dass die Netzbetreiber in der Lage sind, weiter zu investieren und zugleich ja auch noch die notwendige Digitalisierung der Strukturen voranzutreiben? Und ist andererseits die Bevölkerung bereit, die neuen Infrastrukturen, die wir für unsere Energiewelt brauchen, zu akzeptieren und in Kauf zu nehmen?

Noch immer ist das „Not-In-My-Back Yard“-Phänomen in der Praxis oft eine echte Bremse. Nehmen wir nur den Stromnetzausbau: Wir haben bis zum Jahr 2026 rund 7.700 Kilometer an Trassenausbau geplant. Bisher sind gerade einmal 1.700 Kilometer gebaut. Das ist gerade mal ein Fünftel. In einem Satz: Die Themen, die uns am meisten drücken, sind die richtigen Investitionsbedingungen und die schleppenden Planungs- und Genehmigungsprozesse bei Netzausbauprojekten .

WOLFGANG STÖLZLE: Für den Verkehrssektor gilt im Grunde die gleiche Grundsatzfrage wie für die Energiebranche und auch die Digitalisierung: Will man bedarfsorientiert oder angebotsorientiert planen? Bei der Verkehrsinfrastruktur hat man sich sehr lange am Bedarf ausgerichtet, also an der prognostizierten Verkehrsnachfrage – und dann dementsprechend gebaut. Wir erleben aber immer wieder, dass manche Verkehrswege letztlich nicht ausgelastet sind und andere hingegen überlastet.

Das liegt unter anderem auch daran, dass die Nachfrageprognose 30 bis 40 Jahre in die Zukunft geht und kein Mensch weiß, wie sich der Verkehr tatsächlich entwickeln wird. Es spielen einfach so viele Faktoren eine Rolle, dass man nicht alle auf dem Radar haben kann. Die andere Möglichkeit ist: Man stellt ein Angebot zur Verfügung und versucht dann, die Nachfrage zu beeinflussen. Und so weit ist man, glaube ich, in der offiziellen, politischen Kommunikation noch nicht ganz. Das ist nämlich heikel, denn mit restriktiven Maßnahmen werden auch Wählerstimmen adressiert.

Prof. Dr. Wolfgang Stölzle ist Ordinarius und Geschäftsführender Direktor am Institut für Supply Chain Management an der Universität St. Gallen. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Supply Chain Management, Logistik und Güterverkehr. Er leitet u.a. auch das Spin-off Logistics Advisory Experts GmbH. 

Eine Lösung für die Straße wie für die Schiene könnte das sogenannte Road oder auch Mobility Pricing sein: Wenn Sie in Berlin während der Rush Hour auf der Avus unterwegs sind, müssen sie mehr bezahlen, als wenn Sie frühmorgens um drei Uhr dort fahren. Letztlich muss man wohl einen Wertekonsens dafür finden, welche Mobilität und wie viel Mobilität eigentlich erwünscht ist. 

INA-MARIA ULBRICH: Ich stimme Ihnen zu, was diese Grundsatzfrage angeht. Und ich denke, der Ausbau von Infrastrukturen sollte nicht nur den Bedarf abbilden, sondern tatsächlich in die Zukunft schauen. Denn Infrastruktur ist ja letztlich das, worauf sich dann alles andere entwickelt. Wir sehen das beim Breitbandausbau. Da wurde viel zu lange nach dem aktuellen Bedarf geschaut, anstatt in die Zukunft zu investieren.

Daher haben wir in Mecklenburg-Vorpommern ein 1,84-Milliarden-Euro- Investitionsprogramm mit Bundes- und Landesmitteln für die Breitbandinfrastruktur initiiert. Wir setzen dabei von Anfang an auf Glasfaser - denn, dass wir künftig enorme Bandbreiten brauchen, ist einfach absehbar. Ein weiteres Problem sind, wie Herr Stölzle schon angesprochen hat, die enorm langen Planungszeiten bei Infrastrukturvorhaben, die zum einen mit Beteiligungsverfahren zu tun haben, aber auch mit starren Prozessen in der Verwaltung. Die Bürgerbeteiligung brauchen wir, sonst haben wir keine Akzeptanz.

Doch auch bei den Prozessen müssen wir schneller und effektiver werden und nicht immer nur nach dem Dominosteinprinzip agieren. Daran arbeiten wir gerade: Wir haben für den Bereich Bauen und Wohnen einen neuen, digitalen Vorgangsraum entwickelt, wo alle Behörden zeitgleich an den Genehmigungsunterlagen arbeiten können und alle Unterlagen für jeden zugänglich sind. Wenn es dort in den Verfahren Widersprüche oder Stellungnahmen gibt, sind die für alle Beteiligten sofort sichtbar und es kann viel schneller reagiert werden. Man darf aber nicht vergessen: Diese neue Arbeitsweise erfordert auch ein vollkommen neues Bewusstsein für Zusammenarbeit, ja ein neues Miteinander. 

KERSTIN ANDREAE: Zu der Frage der bedarfsgerechten bzw. angebotsorientierten Planung, die Herr Stölzle aufgeworfen hat: Wir werden meiner Ansicht nach beides brauchen und zum Teil auch miteinander enger verzahnen müssen: Wenn wir im Strombereich nur über die Bedarfsseite gehen, kommen wir schnell in den Verzug, weil wir immer mehr individuelle Lösungen für Elektromobilität, Wärmepumpen, Photovoltaik sehen werden. Wir müssen also im Bereich der Netzplanung, vor allem auf der Verteilnetzebene, schon heute die Bedarfe von morgen sicher planen und zur Verfügung stellen, was bekanntermaßen nicht von heute auf morgen geht.

Kerstin Andreae ist seit November 2019 Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des BDEW. Zuvor war sie wirtschaftspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN und Initiatorin sowie Koordinatorin des Wirtschaftsbeirates der Fraktion.

Dabei geht es nicht nur um schiere Kapazitäten, sondern zugleich auch eine Flexibilisierung der Infrastrukturen, die beispielsweise für das netzdienliche Laden von Elektroautos unverzichtbar ist. Im Verkehrsbereich hingegen glaube ich hingegen schon, dass eine stärker angebotsorientierte Planung Sinn ergeben kann: Denn sie kann eine wichtige Lenkungswirkung entfalten - gerade, wenn es um die Frage geht, ob wir Verkehr aus bestimmten Regionen raushaben oder auf die Schiene verlagern möchten. 

INA-MARIA ULBRICH: Es geht ja noch weiter: Gerade bei der Verkehrsplanung brauchen wir auch eine neue Entscheidungskultur und neue Prüfmechanismen. Wir haben beispielsweise gerade in Schwerin eine Straße, die zur Autobahn führt und jetzt vierspurig ausgebaut werden soll. Die Planung für diesen Ausbau wurde vor 25 Jahren begonnen.

Heute würde man eventuell auch sagen können: Dreispurig reicht vielleicht auch – gerade in Verbindung mit einer intelligenten Verkehrslenkung und Spurenführung. Es muss doch eine Möglichkeit geben, so ein Projekt kurz vor der Realisierung noch einmal zu überdenken, was natürlich auch eine neue Fehlerkultur und Offenheit in der Verwaltung - und auch der Gesellschaft - erfordert.


WOLFGANG STÖLZLE: Das ist die berühmte Zeitfalle: ein Phänomen, von dem wir drei wohl gemeinsam ein Lied singen können. Unsere Welt dreht sich immer schneller. Wir müssten also eigentlich immer schneller entscheiden und umsetzen. Und was tun wir tatsächlich? Wir brauchen immer länger, etwas zu entscheiden, weil die Verfahren immer komplexer geworden sind.

Ein Beispiel: In Deutschland kostet ein Kilometer Autobahn im Durchschnitt 30 Millionen Euro. Rund 20 Millionen entfallen dabei auf Planungs- und Genehmigungskosten. Wir brauchen schlicht und einfach neue, agile Prozesse, wie es sie schon lange in der Softwarebranche gibt. 

Mehr Scrum in der öffentlichen Verwaltung? Mehr Agilität, mehr Kommunikation, mehr ressortübergreifende Zusammenarbeit? 
KERSTIN ANDREAE
: Ich glaube schon. Denn das schafft ja nicht nur einen Zeitgewinn, es bringt auch mehr Transparenz in die Prozesse. Vielleicht müssen wir auch nicht immer gleich das ganz große Rad drehen. Ein Beispiel: Gerade im Bereich der Verteilnetze wird die Energiewende ganz neue Herausforderungen schaffen, denn wir müssen eine immer dezentralere Erzeugungswelt mit einer immer flexibler werdenden Verbrauchswelt zusammenbringen – und zugleich die Versorgungssicherheit als oberstes Ziel hochhalten. Es spricht vieles dafür, das in kleineren Modellregionen und Experimentierräumen auszuprobieren und dann funktionierende Lösungen hochzuskalieren und miteinander zu verknüpfen. 

Bildergalerie des Grauens: Marode Infrastuktur

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WOLFGANG STÖLZLE: Ich stimme zu. Wir müssen mehr ausprobieren, kleinere Sprints machen, um in der Scrum-Logik zu bleiben, aus Fehlern und Feedbacks lernen und unsere Prozesse sukzessiv optimieren. Nun geht das natürlich bei großen Infrastrukturvorhaben nicht ganz so leicht von der Hand wie bei der Entwicklung einer App.

Trotzdem wäre ich dafür, mehr Agilität in die Prozesse zu bringen, denn eine funktionierende, nutzerzentrierte Infrastruktur ist von essenzieller Bedeutung und nicht zuletzt auch ein harter Standortfaktor. Ganz gleich, ob wir über Energie, Verkehr, Wasser oder Abwasser reden: Die Standortqualität entscheidet darüber, wo sich Unternehmen ansiedeln – und ob Regionen prosperieren oder verkümmern.

INA-MARIA ULBRICH: Nutzerzentrierung, danke für das Stichwort. Die fällt für mich viel zu oft unter den Tisch. Es wird ja jetzt gerne beklagt, dass unsere Innenstädte aussterben, weil alle nur noch online einkaufen. Aber sind denn unsere Innenstädte nur dafür da, dass man einkauft? Warum geht denn eine Familie in die Stadt? Wenn ich da einen coolen Spielplatz habe, eine funktionierende Gastronomie, attraktive Freizeitangebote oder auch WLAN-Hotspots für Jugendliche – und das alles vielleicht noch mit attraktiven Fahrradwegen erreichbar: Ich bin mir sicher, dass dann Leben in der Innenstadt herrscht!

Ina-Maria Ulbrich ist Juristin. Seit 2011 bekleidet sie das Amt der Staatssekretärin im Ministerium für Energie, Infrastruktur und Landesentwicklung bzw. Digitalisierung, seit November 2016 ist sie auch Beauftragte der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern für Informationstechnik.

Auch in anderen Bereichen, beispielsweise bei Akzeptanzfragen, könnten wir nutzerzentrierter werden und die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen: Das schließt auch neue Technologien wie Virtual Reality ein, die Neuerungen erlebbar machen. Wir müssen danach streben, bei Beteiligungsverfahren nicht immer nur die Menschen zu erreichen, die gegen etwas sind, sondern gerade auch diejenigen, die wir für etwas begeistern können.

Wagen wir noch einen Schwenk von der beschaulichen Innenstadt-Utopie auf die weltweite Supply Chain: Brexit, Covid-19-Pandemie, der querliegende Tanker im Suezkanal: Brauchen wir vielleicht auch bei Lieferketten mehr Agilität oder gar den Rückzug ins Regionale?
WOLFGANG STÖLZLE:
Lieferkettenabrisse sind in der Tat das große Thema gerade. Wir haben aktuell massive Probleme bei der Versorgung mit Halbleitern, worunter beispielsweise die Computer- und Autoindustrie leiden. Holz gibt es nahezu keines mehr auf dem Markt, die Preise sind explodiert. Woran liegt's? Es liegt vor allem daran, dass wir aufgrund der politischen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie noch Engpässe an zahlreichen Stellen haben. Insbesondere gibt es zurzeit keine Containerkapazitäten auf den Seeschiffen mehr – und die Leercontainer stehen auf dem falschen Platz.

Wir haben aber auch einen explodierenden Markt in China, was keiner auf dem Radar hatte. Unternehmen machen sich daher mittlerweile ernsthaft Gedanken über Resilienz. Es geht um nicht weniger als das Redesign von Wertschöpfungsnetzwerken. Viele Unternehmen gehen jetzt faktisch aus Fernost weg und sourcen wieder stärker aus Europa, um höhere Verfügbarkeiten und eine höhere Zuverlässigkeit aufzubauen.

Eine solche Resilienz aufzubauen, kostet Geld, das gilt übrigens ganz generell, nicht nur in der Warenwirtschaft, sondern auch in der Softwareentwicklung oder der Energiebranche. In der Folge steigen die Preise, weil die Kosten steigen. Man muss sich letztlich immer die Frage stellen, was einem Resilienz wert ist. Zum Nulltarif gibt es sie definitiv nicht.

Müssen wir also vor allem mehr Geld investieren, um unsere Infrastrukturen zu sichern? Was braucht es sonst noch an harten oder weichen Faktoren?
KERSTIN ANDREAE:
Ich glaube vor allem, dass wir bei der Finanzierung von Infrastrukturerhalt und -ausbau die Investitionsfähigkeit der Betreiber von unverzichtbaren Infrastrukturen im Blick haben müssen. Ich muss hier mal den etwas trockenen Begriff der Eigenkapitalverzinsung fallenlassen, letztlich also der Rendite der Stadtwerke und Netzbetreiber. Von dieser Rendite hängt natürlich ab, welche Investitionspartner sich hier in welcher Form engagieren.

Eine Netzregulierung, die nur auf „Kostendrücken“ ausgerichtet ist, entzieht den Unternehmen die Mittel zur Bewältigung der Anforderungen durch die verschärften Klimaziele und den dafür notwendigen gewaltigen Infrastruktur-Investitionen. 

WOLFGANG STÖLZLE: Alle Akteure, private und auch die Politik, sollten sich vor Augen halten, dass eine funktionierende Infrastruktur in allen Bereichen ein Attraktivitätsmerkmal für eine Region ist, das man bereitstellen muss, auch zuweilen auf Risiko hin. Dass man im Idealfall nicht der Nachfrage hinterherhechelt, sondern einen Schritt voraus ist – und dann aber versucht, in diesem Voraus-Sein wieder agil zu sein. Das ist wohl die große Herausforderung.



Ansonsten halte ich regionale Leuchtturmprojekte und Testfelder, wie sie Frau Ulbrich und Andreae erwähnt haben, für ein sehr sinnvolles Instrument mit Vorbildcharakter. Man kann aus ihnen lernen und sie sind praxisorientiert angelegt. 

INA-MARIA ULBRICH: Wir brauchen Mut und Weitblick – und eine Offenheit dafür, auch mal die ausgetretenen, üblichen Pfade zu verlassen. Wir brauchen eine Offenheit dafür, zu lernen, lernen zu wollen, auch mal von anderen, auch von denjenigen, die dann vielleicht für das Thema gerade nicht in dem Sinne verwaltungsmäßig zuständig sind.

Und wir brauchen die Zusammenarbeit mit den anderen. Wir müssen vor allen Dingen deutlich stärker auf Investoren und Nutzer zugehen, die Nutzer stärker in den Mittelpunkt stellen. Letztlich müssen wir die Haltung haben, etwas wirklich ermöglichen zu wollen. 

Vielen Dank für das Gespräch.

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