Her mit den Ideen – Energieunternehmen suchen nach Innovationen

Noch nie war der Innovationsdruck auf die Energieunternehmen so groß wie heute. Doch Schnelligkeit und Risikofreude entsprechen nicht der DNA der Branche. Die Kooperation mit Start‑ups soll es richten.

Unternehmergeist

Der Schreibtisch von Philipp Pausder misst 1,20 Meter und sieht exakt so aus wie all die anderen in dem trendigen Großraumbüro mit Holzboden und freigelegten Backsteinmauern in Berlin-Mitte. Für den Geschäftsführer und Gründer des Start‑ups Thermondo käme es nie infrage, für sich einen größeren Arbeitsplatz als seine Mitarbeiter zu beanspruchen, ein Einzelbüro zu beziehen oder Brainstorming-Meetings abzuhalten. „Konzernig“ nennt Pausder solche Gepflogenheiten und meint damit: uncool, schwerfällig und vor allem nicht kreativ. Ideen müssten gleich ausgesprochen und weiterentwickelt werden – am besten mit allen Beteiligten quer durch den Raum. Begeisterung und Motivation sollen nicht durch Türen und starre Hierarchien aufgehalten werden. „Ich möchte, dass wir uns austauschen und Spaß haben.“ Auf diese Weise hat Pausder es mit seinen Thermondo-Mitbegründern Florian Tetzlaff und Kristofer Fichtner weit gebracht. Am Anfang stand lediglich die Idee, dass es doch möglich sein muss, in Zeiten der Energiewende mehr Haus- und Wohnungseigentümer zum Heizungsaustausch zu bewegen. Inzwischen bietet Thermondo Wechselwilligen ein online berechnetes und herstellerneutrales Festpreisangebot an, das neben Beratung, Montage und Wartung sogar die Beantragung von Fördermitteln enthält. Innerhalb kürzester Zeit stehen die Thermondo-Handwerker mit dem Tablet in der Hand vor der Tür. Die Heizungsbauer 4.0. Thermondo wuchs zu Anfang so rasch, dass die Gründer aus Platzmangel den Keller der damals angemieteten Altbauwohnung für Meetings nutzten. „Es war trocken, aber etwas staubig“, erinnert sich Pausder. Derart unterirdisch lernten auch die Mitarbeiter des Energieunternehmens E.ON das Start‑up kennen, als Thermondo für die zweite Phase Investoren suchte. „Die fanden den Raum ziemlich spektakulär.“ Und die Idee der Jungunternehmer ebenfalls. E.ON stieg ein. Für Start‑ups wie Thermondo ist ein großes Energieunternehmen nicht nur als Finanzier interessant. Sie haben bei einer Kooperation auch Zugang zu Millionen von Kunden, um ihre Entwicklung anzubieten, zu testen und zu optimieren. Bessere Partner lassen sich kaum finden, zumal auch die Energiekonzerne händeringend nach Ideen suchen, die sich zu neuen Geschäftsmodellen entwickeln lassen. Denn noch nie war der Innovationsdruck in der Branche so groß wie heute. „Der Energiemarkt wird von einer Innovationsgeschwindigkeit erfasst, die wir sonst nur aus der IT-Branche kennen“, sagt Innovationsforscher Hendrik Send , Professor am Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft.

Erfolgsmodell Stabilität und Verlässlichkeit

Keiner weiß, in welche Richtung sich der Strommarkt entwickeln wird. Allein der Gedanke, eine tiefgreifende Neuerung wie Uber als Alternative zum Taxi oder Airbnb als das neue Hotelzimmer könnte auch die Energiebranche erschüttern, treibt den Vorständen den Angstschweiß auf die Stirn. Bei der Frage, wer bei Innovationen die Nase vorne hat, geht es um nichts weniger als die Existenz der etablierten Energieversorger. RWE lässt intern bereits Worst-Case-Szenarien entwickeln. „Disruptive Digitals“ heißen die Innovationen, die die Energieversorger in ihren Grundfesten erschüttern könnten. Ganze Teams befassen sich mit Fragen wie: In drei Jahren gibt es keine Energieversorger mehr. Was ist passiert? „Erschreckend, auf welch reale Ideen die Kollegen kommen“, sagt Thomas Birr, Leiter Strategie und Innovation beim zweitgrößten Energiekonzern. „Nur ein Beispiel: Eine unserer Stärken ist die treue Kundschaft. Es wäre ein Szenario, diese Kundenbindung zu zerstören, indem man den Wechselprozess zum Erlebnis macht und sehr stark vereinfacht.“ Noch können die Versorger darauf bauen, dass die Kunden auch bei Preisunterschieden nur ungern wechseln. Doch „die Technologiekonzerne lauern nur darauf, die Schnittstelle zu den Stromkunden zu besetzen“, sagt Birr. „Da sind wir sehr wachsam. Deswegen arbeiten wir mit Volldampf daran, diese Modelle als erste zu finden.“ Doch das ist leichter gesagt als getan. Die Stromanbieter sind mit den Eigenschaften Stabilität und Verlässlichkeit groß geworden. Risikofreude und Schnelligkeit – das widerspricht allem, wofür die Energie­unternehmen historisch stehen. Die ersten Schritte auf dem Weg zur Energiewende waren noch relativ nah an ihrer DNA. Da hatte man es mit langfristiger Planung und Versorgungssicherheit zu tun. Aber bei der Digitalisierung geht es um Wochen und Monate. Eine Denkfabrik oder Ideenwerkstatt inmitten der regulären Belegschaft anzusiedeln, ist von vornherein ein hoffnungsloses Unterfangen. Es geht dabei nicht nur um Kleiderordnung und Einzelbüros, sondern um eine ganz andere Arbeitsweise und einen neuen Blick auf die Welt. „Kreative Räume“ verortete man eher im Töpferkurs der Volkshochschule als im eigenen Konzern. Flache Hie­rarchien mit amorphen Strukturen und ständigem, ungesteuertem Gedankenaustausch, schnelle und flexible Umsteuerung, wenn etwas nicht so gut läuft – so funktionieren die Unternehmen nicht. RWE hat deshalb abseits des Normalbetriebs eigene Innovations-Hubs geschaffen, wo es auch „deutlich anders aussieht als in den übrigen Büros von RWE“, versichert Birr. Und dort „geht es sehr kreativ zu.“ Diese „Innovationszellen“ allein reichen allerdings nicht einmal im Ansatz, um Schritt zu halten. Mit eigenen Büros vor Ort scannt RWE auch die Entwicklungen in den USA und Israel, den international produktivsten Start‑up-Szenen. Denn anders als Konzerne können Neugründungen ihre Ideen in einer ganz anderen Geschwindigkeit entwickeln als große Unternehmen. „Und dann geht es natürlich auch um die schiere Menge“, sagt Birr. „An den kreativen Hotspots der Welt gibt es eine solche Fülle an Ideen – da könnte man selbst mit einer noch so großen internen Mannschaft nicht mithalten.“

Welten prallen aufeinander

Die kreative Gründerszene und die Energieunternehmen trennt mehr als nur eine kulturelle Kluft. Kritiker sprechen gar von einem „Grand Canyon“. Jedenfalls wird die kulturelle Transformation einige Zeit dauern. Zumal die Energiebranche viele Jahre den Trend hin zu Erneuerbaren Energien und dezentraler Versorgung als versponnene Mode betrachtete, die man auszusitzen gedachte. Photovoltaik – ein Unwort, das es zu vermeiden galt. „Es ist unfassbar, wie träge viele Unternehmen gewesen sind und wie wenig aufgeschlossen gegenüber neuen Ideen“, sagt Steffen Heinrich. Wenn er an seinen ehemaligen Arbeitgeber denkt, dann greift er sich immer noch an den Hals, als müsste er seine Krawatte lockern. Mit einem Vorschlag durchzudringen sei lange schlicht unmöglich gewesen. „Dort hatte damals keiner eine Vision.“ Mit 42 Jahren stieg er aus. In seinem ersten Bewerbungsgespräch saß ihm ein Gründer im ausgeleierten schwarzen T-Shirt gegenüber. Man duzte sich. An feste Strukturen oder Arbeitszeiten war nicht zu denken. Es gab keine klare Richtung, keine Tabus, außer vielleicht, dass es nicht nach etwas Altem riechen durfte. „Ich habe mich sofort wohlgefühlt.“ Inzwischen gehört Steffen Heinrich selbst zu den Gründern. Zusammen mit seinen Partnern Busso von Bismarck und Dr. George Hanna hat er Qinous ins Leben gerufen, ein Start‑up, das die Energieversorgung in stromnetzfernen Regionen neu erfinden will. Denn dort lärmen und stinken bisher Dieselgeneratoren vor sich hin. „Was da brachliegt!“, so Heinrich. Er tritt an die Fensterfront der vier Meter hohen Räume in der Villa Rathenau, einem Jugendstil-Gebäude in Berlin-Schöneweide, in dem einst die AEG ihren Geschäftssitz hatte. Es liegt direkt neben der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin sowie einigen anderen Forschungseinrichtungen. Die Nähe zu den Wissenschaftlern ist wichtig für Qinous, weil sie häufig mit Instituten und Studenten an Projekten zusammenarbeiten. Heinrich zeigt auf drei unspektakuläre Container, die neben einem Parkplatz abgestellt sind – sein ganzer Stolz. Darin steckt die standardisierte Elektronik, um Micro Grids zu betreiben mit Leistungen von 30 Kilowatt bis zu einem Megawatt. Die Prototypen sind eine Kampfansage an Dieselgeneratoren, denn sie speichern und ersetzen sie durch Photovoltaik – billiger, leiser und umweltfreundlicher. Dieselmotoren werden nur noch als Back‑up eingesetzt. Wie ruhig und kostengünstig es in so vielen Teilen der Welt zugehen könnte, schwärmt Heinrich. Allein die UNO-Hilfsorganisationen wären in der Lage, in den Krisengebieten Hunderte der Qinous-Container einzusetzen. Solche standardisierten und damit bezahlbaren Netzlösungen in der Box, klimatisiert und fernsteuerbar, sind für abgelegene Gegenden interessant: eine touristische Anlage auf einer kleinen griechischen Insel etwa, eine abgelegene Siedlung in den Bergen, aber auch für die vielen Dörfer und Ortschaften in weitläufigen Staaten wie Kanada oder in Entwicklungs- und Schwellenländern. Gerade erst hat Qinous die Ausschreibung für die Versorgung eines australischen Aborigine-Dorfes gewonnen, ein Pilotprojekt. Das Potenzial ist riesig, denn in vielen Gegenden der Welt wird wahrscheinlich nie ein richtiges Stromnetz gebaut; so wie etwa in Afrika das flächendeckende Telefonfestnetz mit der Mobiltelefontechnologie übersprungen wurde. Doch ob sich ein großes deutsches Energieunternehmen für die zweite Finanzierungsphase von Qinous findet, ist fraglich. Das internationale Interesse der deutschen Versorger sei gering, so Heinrichs bisherige Erfahrung. „Es ist erstaunlich, wie sehr sich die deutschen Großen von vergleichbaren anderen Großen unterscheiden.“ Qinous hält deshalb in ganz Europa Ausschau nach finanzstarken Partnern aus der Energiebranche.

Start‑ups sind Wetten auf die Zukunft

Es ist aber nicht allein der Fokus auf den deutschen Absatzmarkt, der eine Kooperation verhindern könnte. Für die Energieunternehmen ist es oft auch schwierig zu entscheiden, wo sie investieren sollen. Denn es ist durchaus nicht immer eine Win-win-Situation. Die großen Energiekonzerne brauchen neue Geschäftsmodelle, um am Ende des Tages damit Geld zu verdienen. „Das Problem ist, dass sie Riesen sind“, sagt Innovationsforscher Send. „Damit Start‑ups einen nennenswerten Beitrag leisten können, müssen sie sehr schnell und sehr stark wachsen – das können viele nicht leisten.“ Außerdem gehen den Investoren nicht selten auch Millionen von Euros oder Dollars verloren, denn sieben von zehn Start‑ups scheitern. Das gehört in der Szene dazu. No big deal. Aber große Energieunternehmen verlieren ungern Geld. Einige steigen deshalb auch schon in der Vorgründungsphase ein, um sich inhaltlich mit dem anvisierten Start‑up auseinandersetzen zu können. Denn: Entscheidungen für oder gegen ein Start‑up sind immer auch eine Wette auf die Zukunft. Lernen müssten die Energieriesen vor allem mehr über ihre Kunden. Es fängt schon damit an, dass sie nach wie vor als „Zählpunkte“ betrachtet würden, kritisiert Innovationsforscher Send. Dabei werde es immer wichtiger zu verstehen, wie Menschen leben und was sie wollen. „Die Energiewirtschaft scheint damit überfordert zu sein, den Verbrauchern interessante Angebote zu machen.“ Trotz der oft langjährigen Verbindung ist über die Stromkunden, ihre Daten und Wünsche sehr wenig bekannt – gefährlich wenig. Viele Deutsche träumen beispielsweise von der Selbstversorgung mit Strom, am liebsten mit Erneuerbaren Energien. Gleichzeitig wird Photovoltaik immer kostengünstiger und einfacher zu in­stallieren. In Dresden werden von dem Start‑up Heliatek inzwischen sogar ultraleichte organische Solarfolien entwickelt, die auf jedes Fenster aufgeklebt werden und die Nutzung der Sonnenenergie enorm nach vorne bringen könnten. RWE gehört sogar zu den Investoren. Wenn sich dank solcher Neuerungen Nachbarschaftsnetze oder Peer-to-Peer-Netzwerke entwickeln und es technisch möglich wird, auf unkomplizierte Weise andere mitzuversorgen, wäre die Branche mit einem der gefürchteten „Disruptive Digitals“ konfrontiert. Die Abrechnung würde dann nicht mehr auf der Basis von Stromlieferverträgen, sondern über sogenannte Blockchain-Protokolle erfolgen, wie sie bereits bei der Internetwährung Bitcoin angewandt werden. „Wenn so etwas erst einmal funktioniert“, so Thomas Birr von RWE, „dann ist das eine Revolution – eine Art Internet für Energie.“ Und wer braucht dann noch die Stromkonzerne? 

Zur Autorin: Silke Mertins schreibt als freie Journalistin über Wirtschafts­themen. Sie hat zuvor 13 Jahre lang als Redakteurin und Korrespondentin für die Financial Times Deutschland gearbeitet. Heute berichtet sie vor allem für die NZZ am Sonntag aus Deutschland.

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