Es tut sich nichts bei Energiewende und Klimaschutz? Ja und nein. Wer auf den politischen Diskurs und die aktuelle energiepolitische Entwicklung schaut, kann in der Tat den Eindruck bekommen, das Projekt hätte sich irgendwie festgefahren – in steigender Komplexität, in Sorge vor Kosten und Verteilungswirkungen, in einer Vielzahl weiterer Probleme, die eben auch zu lösen sind. Wenn ein sogenanntes 100-Tage-Gesetz mehr als 200 Tage braucht und schließlich zum Energiesammelgesetz wird, wenn eine von allen für unerlässlich betrachtete Reform der Abgaben und Umlagen rund um die integrierte Energiewende mit einem klaren Fokus auf die Reduzierung von CO2 einfach nicht angegangen werden will, dann ist das nicht gerade ermutigend.
Rationalität kann – frei nach dem Soziologen Max Weber – als ein Denken oder Handeln verstanden werden, das an einem Ziel orientiert ist und für die Erreichung dieses Ziels planend und berechnend vorgeht. Wenn dem so ist, dann fehlt aktuell sicher etwas.
Aber es gibt auch einen anderen Blick auf Energiewende und Klimaschutz. Ein nicht enden wollender Sommer voller Diskussionen über die Auswirkungen des Klimawandels liegt hinter uns. Eine neue Bürgerbewegung ist sichtbar geworden, die von weiten Teilen der Bevölkerung mit Sympathie begleitet wird und Auswirkungen auf Wahlergebnisse hat. Der Sonderbericht des Weltklimarats IPCC hat eine große Wahrnehmung erfahren. Der Klimawandel und das, was man dagegen tun muss, schaffen es wieder auf die Titelseiten der Magazine.
Mit neuen Kooperationen die Märkte der Zukunft erkunden
Vor allem aber: Eine Vielzahl von Unternehmen hat sich auf den Weg gemacht. Überall sprießen Modellvorhaben und sektorübergreifende Pilotprojekte aus dem Boden. Neue Business-units haben sich in den Unternehmen der Energiewirtschaft gegründet und die einstmals „neue Energiewirtschaft“, die gegen die sogenannte „alte Energiewirtschaft“ angetreten war und sich vor allem um Wind und Sonne gekümmert hat, ist längst schon zu einer „neuen alten Energiewirtschaft“ geworden. Wirklich neu sind die, die Kraft Ihrer Erfahrung in einer Vielzahl neuer Kooperationen mit Start-ups und Partnern aus anderen Sektoren mutig die Märkte der Zukunft erkunden.
Immer mehr neue Technologien stehen zur Verfügung; neue Geschäftsmodelle warten darauf, endlich ihre Chance zu bekommen: Industriewärme, die für Wohnblocks genutzt wird; „Ultra-LowEx“ Wärmenetze, die Quartiere versorgen und dabei nur einen geringen Teil der nutzbaren Energie verbrauchen; professionalisierte Dienstleistungen für den Smart-home-Bereich; Sensoren und Algorithmen, die die Intelligenz in den Netzen und Industrieanlagen erhöhen. Die ersten 100 MW Power-to-X-Anlagen werden geplant. Power Purchase Agreements (PPAs) rücken zunehmend ins Blickfeld, weil damit Erzeuger und Verbraucher direkt miteinander in Verbindung treten können und immer mehr Produktionsstandorte klimaneutral produzieren und sich von regulatorischen Zwängen befreien wollen.
An vielen Orten sind Stadtwerke die Vorreiter, denn die Gestaltung der urbanen Energiewende ist eine der aktuell spannendsten gestalterischen Aufgaben. Selbst die Autoindustrie überbietet sich mit immer ehrgeizigeren Zielvorgaben. Neue Akteure mischen sich ein, seien es Start-ups oder Unternehmen aus ganz anderen Wertschöpfungsketten, die heute bei Energiewende und Klimaschutz ihre Chance erkennen. Beim Wettbewerb unserer internationalen Initiative Start Up Energy Transition (SET) haben allein in den ersten beiden Jahren rund 1.000 Gründerunternehmen aus 88 Ländern teilgenommen. Hinzu kommt: Unternehmen und Verbände schließen sich zusammen und adressieren die Notwendigkeit, endlich den ökonomischen Rahmen stärker auf CO2-Vermeidung auszurichten.
Mut und Dynamik setzen der Stagnation ein Ende
Aus all diesen Ansätzen kann Mut und neue Dynamik entstehen. Wenn es politisch mal schwierig ist, müssen eben andere für die notwendige Geschwindigkeit sorgen – oder, um es mit einem Song von Billy Ocean zu sagen: When the Going Gets Tough, the Tough Get Going.
Die Stagnation, so scheint es aus dieser Perspektive, könnte bald ein Ende haben. Die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung wird mit ihren Empfehlungen den Entscheidungsprozess zu zentralen Fragen der Energiewende ein gutes Stück voranbringen. 2019 steht das Klimaschutzgesetz auf der Agenda, dass das Erreichen der Klimaziele 2030 garantieren soll und konkrete Maßnahmen anstoßen wird. Gut, dass Bundesminister Peter Altmaier den dringend erforderlichen Netzausbau zur Chefsache gemacht hat. Gut, dass Bundesministerin Svenja Schulze nicht müde wird, auf eine Veränderung des ökonomischen Rahmens für die Klimapolitik zu drängen. Gut, dass in allen Ressorts intensiv darüber nachgedacht wird, welche Maßnahmen im Klimaschutzgesetz zum Tragen kommen können.
Auch auf europäischer Ebene ist viel in Bewegung. Die Entscheidung der EU, die CO2-Grenzwerte für Pkw bis 2030 um weitere 35 Prozent zu reduzieren, wird eine enorme Dynamik in den Mobilitätssektor bringen. Die Kommission plädiert dafür, dass Europa bis 2050 klimaneutral wird. Zum Erreichen der Klimaziele 2030 müssen die EU-Staaten konkrete Maßnahmenpläne einreichen. Überhaupt wird zunehmend deutlich, dass die verbindlichen Maßgaben aus Europa – anders als die unverbindlichen nationalen Klimaziele – enormen Druck entfachen und bei Nichterfüllung auch enorme Kosten mit sich bringen können, wenn zum Ausgleich Emissionszertifikate gekauft werden müssen. Der Druck auf den Bundesfinanzminister, sich endlich intensiver mit dem Transformationsprozess auseinanderzusetzen, steigt.
2019 könnte es auf einmal sehr schnell gehen
2019 wird das Jahr der Entscheidungen in der deutschen Energie- und Klimaschutzpolitik, denn die Klimaziele 2030 sollen laut Koalitionsvertrag „auf jeden Fall“ erreicht werden. Die Grundlagen für ein Gelingen sind vorhanden: die Entschlossenheit der Unternehmen, der Rückhalt in der Bevölkerung, eine nach wie vor vielfältige und innovative Wirtschaft und fundierte Analysen wie die dena-Leitstudie Integrierte Energiewende oder die Studien von acatech und dem BDI, die den Entscheidungsträgern aufzeigen, welche Optionen es auf dem Weg zum Ziel gibt und welche Auswirkungen sie haben werden.
Zugegeben, die Herausforderungen sind enorm und der Blick auf das Tempo in der Politik kann entmutigen. Aber wenn es uns in den kommenden Monaten gelingt, klare politische Vorgaben zu machen und neue ökonomische Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Wettbewerb um die besten Klimaschutzlösungen ermöglichen, dann kann es auf einmal sehr schnell gehen. Energiewende und Klimaschutz sind die Fortschrittsprojekte unserer Zeit. Die Zeichen für den Aufbruch sind bereits an vielen Stellen sichtbar. Daraus sollten wir die Kraft und den Mut schöpfen, auch die politischen Herausforderungen zu meistern – we’ll climb any mountain, wie es bei Billy Ocean heißen würde. Trauen wir uns. Es lohnt sich.
Ein Gastbeitrag von Andreas Kuhlmann
Quelle: dena / Christian Schlüter
Seit 2015 ist der Diplom-Physiker Vorsitzender der Geschäftsführung der Deutschen Energie-Agentur (dena). Zuvor hat Kuhlmann viele Jahre an der Schnittstelle von Politik und Wirtschaft gearbeitet, unter anderem im Europaparlament und im Bundestag. 2010 bis 2015 war er Geschäftsbereichsleiter Strategie und Politik beim BDEW.