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"Endlich die Weichen für den Ausbau stellen."

Die Verteilnetze dürfen nicht zum Flaschenhals der Energiewende werden, sagt Leonhard Birnbaum, CEO der E.ON SE.

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© ABCDstock / Shutterstock

Herr Birnbaum, schauen wir einmal gemeinsam auf die Stromnetze: Im Vergleich zu den bereits realisierten Netzausbaumaßnahmen ist zur Erreichung der geplanten EE-Ausbauziele ein weiterer Ausbau des Verteilnetzes erforderlich. Halten Sie die aktuell gesteckten politischen Ziele für umsetzbar?
Die Ziele sind umsetzbar, wenn wir in Deutschland endlich die Weichen für den systematischen Ausbau der Energienetze stellen. Dafür besteht dringender Handlungsbedarf. Erstens weil Solaranlagen oder Windräder heute viel schneller errichtet werden, als das Stromnetz ausgebaut und verstärkt werden kann, und zweitens wegen der Kosten bei Abregelung und Netzengpässen: Mehr Erneuerbare werden zu verlorenen Investitionen, wenn das Gesamtsystem nicht mitwächst. Und die hohen Commodity-Preise der letzten Monate haben diese unnötigen Kosten auch noch explodieren lassen.

Trotzdem bauen wir in Deutschland mit unseren Netzen immer noch hinterher. Die Bundesregierung hat die immense Bedeutung der Netzinfrastruktur noch nicht hinreichend erkannt. Auch die zuletzt angestoßenen gesetzlichen Maßnahmen sind leider nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Was wir brauchen, sind bessere Investitionsbedingungen, deutlich schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren, eine für die Zukunft weiterentwickelte Netzregulierung und mehr Tempo bei der Digitalisierung des Netzbetriebs.

Welches sind aus Ihrer Sicht die zentralen Hemmnisse in Genehmigungsverfahren für Ausbau- und Ertüchtigungsmaßnahmen im Netz?
Am Ende zählen nur Ergebnisse. Und da muss ich attestieren: Die Planung der Erneuerbaren und des erforderlichen Netzausbaus verläuft heute nach wie vor nicht synchron. Bei EE-Anlagen sprechen wir in der Regel von Planungs- und Genehmigungszeiten zwischen zwei und fünf Jahren. Bei neuen Leitungen sind es acht bis zwölf Jahre, teilweise länger. Das ginge schneller: Nach der Flutkatastrophe im Ahrtal wurden Freileitungen in Rekordzeit in Betrieb genommen, teils in nur einem Drittel der durchschnittlichen Zeit. Das ist das Tempo, das wir uns auch für die Energiewende wünschen würden. Ähnlich sieht es leider beim Thema Digitalisierung aus. Wichtige Projekte wie der Smart-Meter-Rollout werden durch ein Wirrwarr an Vorschriften und unklaren Verantwortlichkeiten ausgebremst. Das kann sich Deutschland nicht länger leisten. Wir brauchen maximale Fokussierung auf Ergebnisse, radikale Vereinfachung und glasklare Zuständigkeiten.

Welche Maßnahmen müssen Verwaltungs- und Genehmigungsbehörden demnach ergreifen, welche die Politik?
Gerade das Fehlen von leistungsfähigen Verteilnetzen könnte zum Flaschenhals werden. Deshalb muss der Verteilnetzausbau auf allen Spannungsebenen – auch in der Mittel- und Niederspannung – den gleichen gesetzlich verankerten Vorrang genießen wie der Ausbau der Erneuerbaren.


Leonhard Birnbaum, CEO E.ON SE © E.ON


Für eine echte Beschleunigung gehören Genehmigungsverfahren in ihrer Gesamtheit auf den Prüfstand – die Adaption einzelner Gesetze und Verordnungen allein reicht nicht aus. Die unzähligen Einspruchs- und Klagemöglichkeiten und naturschutzrechtliche Vorgaben müssen dringend standardisiert werden. Und wir müssen auch an alle anderen rechtlichen Vorschriften herangehen – Eichrecht, Datenschutz, Zertifizierungen etc. Mit Genehmigungsverfahren allein werden wir nicht weit genug kommen.

Welches Zielbild haben Sie für Ihre eigenen Stromverteilnetze bei einer Klimaneutralität im Jahr 2045?
Effektive Stromverteilnetze müssen 2045 zwei Dinge leisten: die erforderliche Kapazität und die erforderliche Flexibilität. Das geht nur mit Investitionen und intelligenter Digitalisierung.

Mit dem Wachstum der Erneuerbaren wird Flexibilität zum zentralen Paradigma des Stromsystems. Es wird immer wichtiger, dass flexible Erzeuger, zum Beispiel mithilfe von Speichern, aber auch flexible Verbraucher, zum Beispiel mithilfe digitaler Technologien und Lastmanagement, dazu beitragen, die „Energiebilanz“ im Stromnetz in der Waage zu halten. Moderne, smarte Verteilnetze sind der Schlüssel für eine bürgernahe Energiewende, weil sie Kunden ganz neue Möglichkeiten im Umgang mit Energie geben. Wir machen aus reinen Konsumenten „Flexumer“, die Energie nach Bedarf produzieren, speichern, verbrauchen und im Netz verteilen und damit zu einem elementaren Bestandteil der Energiewende werden.

Welche Bausteine werden bei der Transformation Ihrer Stromverteilnetze dominieren?
Etwa die Hälfte aller erneuerbaren Energien in Deutschland sind heute an E.ON-Netze angeschlossen. Gleichzeitig sehen wir eine wahre Flut an Anträgen für Neuanschlüsse. Und das ist erst der Anfang: Die Ziele der Bundesregierung für den EE-Ausbau, E-Mobilität und Wärmepumpen werden fast monatlich ambitionierter. Wir werden also zukünftig eine Vervielfachung dieser Effekte sehen und in den Verteilnetzen umsetzen müssen. Deshalb investiert E.ON allein 22 Milliarden Euro bis 2026 in den notwendigen Ausbau, die Modernisierung und Digitalisierung der Netze, davon mit 16 Milliarden Euro den größten Teil in Deutschland. 2 Milliarden Euro fließen allein in Digitalisierung, ohne die sich so ein Netz nicht sektorenübergreifend und effizient betreiben ließe.

Übersteigen die Anschlussbegehren der Erneuerbaren schon heute die Kapazität im Netz?
Ja, zum Teil erheblich. Ein gutes Beispiel ist unser Netzgebiet in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Hier stehen aktuell Anträge mit insgesamt über 100 Gigawatt einer bisher installierten Leistung von 13 Gigawatt gegenüber. Bei PV-Anlagen haben sich die Anschlussbegehren von 2020 auf 2021 insgesamt fast verdoppelt. Bei Wallboxen für elektrisches Laden haben wir im gleichen Zeitraum eine Steigerung um 600 Prozent gesehen. Je nach Netzgebiet ergibt sich also bereits heute ein beträchtlicher Ausbaubedarf in unseren Netzen.

Welche zentralen Herausforderungen sehen Sie bei dieser Transformation auf Ihr Unternehmen zukommen?
Deutschland befindet sich in einem knallharten, internationalen Wettbewerb um Investoren und Kapital. Wir brauchen attraktive Renditeperspektiven für alle Eckpfeiler der Dekarbonisierung, auch für unsere Netzinfrastruktur. Wenn wir heute zu wenig in die Energieinfrastruktur investieren, führt das langfristig zu deutlich höheren Kosten für die Gesellschaft. Gleichzeitig besteht ein massiver regulatorischer Weiterentwicklungsbedarf. Ein vorausschauender Netzausbau und eine zukunftsfähige Regulierung helfen uns dabei, gestärkt aus der aktuellen Krise hervorzugehen und zukünftige Krisen zu vermeiden. Das Energiesystem der Zukunft wird durch Algorithmen gesteuert. Dafür müssen jetzt die Weichen gestellt werden.

Insbesondere Niederspannungsnetze können zukünftig einen wichtigen Beitrag zur Systemstabilität und Versorgungssicherheit leisten. Was sind geeignete Instrumente für den Flexibilitätseinsatz durch Verteilnetzbetreiber?
Die Energiewende verändert die Rollen und Verantwortlichkeiten bei der Gewährleistung einer sicheren Versorgung. Der Anteil der im Verteilnetz angeschlossenen Kraftwerksleistung wird zukünftig nahezu auf 80 Prozent steigen. Dann werden auch die Verteilnetzbetreiber einen aktiven Beitrag zur Systemsicherheit erbringen müssen.

Der Ausstieg aus Kohle- und Kernenergie führt in Deutschland zu einem Wegfall von rund 50 Gigawatt gesicherter Erzeugungsleistung bis 2038. Es braucht also intelligente Konzepte, um auch zukünftig eine jederzeit stabile Stromversorgung sicherzustellen. Neben den erneuerbaren Energien gewinnen dabei weitere Technologien an Bedeutung, wie neue, klimafreundliche Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen und Speichertechnologien. Letztendlich werden die künftigen Rahmenbedingungen und das Marktdesign darüber entscheiden, wer zukünftig in diese Technologien investieren wird.

Wie spielen diese Sektoren in Zukunft zusammen?
Nur die intelligente Verknüpfung von Strom, Wärme und Verkehr ermöglicht den regional bestmöglichen Weg zur Klimaneutralität. Stadtwerke und Verteilnetzbetreiber haben durch ihre Nähe zu Energieversorgern, Verbrauchern und dem öffentlichen Nahverkehr dabei eine Schlüsselposition. Schon heute setzen wir mit einer Vielzahl von Projektpartnern aus dem Erzeugungs-, Vertriebs- und Netzgeschäft die Sektorenkopplung um.

Im Koalitionsvertrag wurden die Strom- und Wasserstoffnetze als Rückgrat des Energiesystems der Zukunft genannt, Gasverteilnetze nicht. Erdgas wird also nicht als Brückentechnologie zu Wasserstoff für den Wärmesektor gesehen. Und nun beschleunigt der Ukraine-Krieg den Übergang von Erdgas auf alternative Medien wie Wasserstoff. Bemerken Sie schon erste Auswirkungen auf Ihre Gasverteilnetze?
Die Nutzung unseres Erdgasnetzes mit konventionellem Gas ist durch das Bundes-Klimaschutzgesetz bis 2045 befristet. Aber klar ist auch: Eine All-Electric-Welt wird nicht funktionieren, weder kurz- noch langfristig. Vorhandene Infrastruktur wie die Gasnetze müssen wir bei der Energiewende mitdenken und möglichst intelligent transformieren. 

Welche Szenarien für Ihre Gasverteilnetze bis 2030 und 2045 halten Sie für wahrscheinlich?
Sowohl volks- als auch betriebswirtschaftlich macht es keinen Sinn, eine komplett neue Wasserstoffinfrastruktur parallel zur existierenden Gasinfrastruktur aufzubauen. Vorhandene Netze können den Transport von Wasserstoff in Kombination mit neuen, regionalen Leitungen sicherstellen. Dafür müssen sie entsprechend vorbereitet werden. Kunden, die bis heute noch Erdgas nachfragen, werden schrittweise umsteigen, insbesondere auf Strom, aber auch auf grüne Gase. Entsprechend wird die Gasnetzinfrastruktur zukünftig sicherlich anders und weniger engmaschig aussehen als heute. Ein physischer Rückbau von Gasnetzen dürfte aber in den wenigsten Fällen sinnvoll oder erforderlich sein.

Wo wird Wasserstoff zuerst großflächig zum Einsatz kommen? 
Wir gehen davon aus, dass zunächst größere industrielle Verbraucher punktuell mit Wasserstoff versorgt werden. Dann kommen schrittweise weitere Verbraucher in der Umgebung dazu. Dort, wo Wasserstoff ohnehin verfügbar sein wird, kann er auch zur Raumwärmeversorgung genutzt werden. Hier erfolgt dann eine Umstellung der bestehenden Gasinfrastruktur auf Wasserstoff. Dort, wo Industrie und Verkehr Wasserstoff benötigen, gilt es, die regionale Netzinfrastruktur zur Verfügung zu stellen – entweder durch die Umstellung bestehender Gasleitungen oder durch Neubau. Im nichtindustriellen, ländlichen Raum werden hingegen strombasierte Wärmelösungen in Neubau und Bestand zum Standard. Hier braucht es keine Umwidmung der Netze.

Welche drei zentralen Forderungen haben Sie an die Politik für die erfolgreiche Transformation zur Klimaneutralität 2045 in Bezug auf die Energienetze?
Eine zukunftsfähige und nachhaltige Investitionspolitik für Energieinfrastruktur muss den Anforderungen der Energiewende gerecht werden. Die Politik muss die überragende Rolle der Energienetze noch deutlich stärker in den Vordergrund rücken und den Regulierungsrahmen so weiterentwickeln, dass auf keinen Fall zu wenig in die Netze investiert wird.
Ohne Digitalisierung geht es nicht. Die Bundesregierung muss daher für einen echten Schub beim Smart-Meter-Ausbau sorgen.
Planungs- und Genehmigungsprozesse müssen radikal beschleunigt werden. Wenn wir beim Ausbau der Erneuerbaren und der Netze nicht integriert vorgehen, führt das zu erheblichen Kosten für die Gesellschaft, die vermeidbar wären.

Herr Birnbaum, vielen Dank für das Gespräch.


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