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Wie die Energiewirtschaft Sicherheit und Widerstandsfähigkeit unserer Energieversorgung auch künftig gewährleistet.
Spätestens seit der Energiekrise infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist die hohe Bedeutung von Resilienz des europäischen und deutschen Energiesystems in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft umfassend deutlich geworden. Während die Energiekrise dank der gemeinsamen Anstrengungen der Energieunternehmen und der politischen Akteure erfolgreich bewältigt wurde und die Abhängigkeit von russischen Energieträgern in Deutschland und vielen, wenn auch noch nicht allen, EU-Mitgliedstaaten signifikant verringert bis überwunden wurde, wird die Resilienz des Energiesektors in seinen vielen Facetten auch weiterhin einen herausragenden Stellenwert behalten.
Sicherheitspolitik und Klimarisiken zusammendenken
Resilienz muss breit gedacht werden: Sicherheitspolitische Herausforderungen und die neuen geopolitischen und geoökonomischen Realitäten sind ebenso zu berücksichtigen wie der zunehmend rasant fortschreitende Klimawandel mit seinen physischen und gesellschaftlichen Auswirkungen. Nicht zuletzt sind gesellschaftliche Akzeptanz und Widerstandsfähigkeit die Basis von Resilienz. Wie die Nationale Sicherheitsstrategie (2023) festgehalten hat, sind unsere Wirtschaft und Gesellschaft komplexen Bedrohungen ausgesetzt, zu welchen hybride Angriffe wie Cyberangriffe, Sabotage und Spionage auf die Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) gehören. Zugleich zählen Energieinfrastrukturen zu den wichtigsten und schützenswertesten KRITIS-Bereichen, da von ihnen weitere KRITIS, wie zum Beispiel Kommunikationsnetze, Wasser- und Abwasserversorgung oder die Gesundheitsversorgung, abhängen.
Gleichzeitig werden Deutschland und die EU auch in Zukunft auf Importe von Energieträgern angewiesen sein, womit diverse Lieferkettenrisiken einhergehen können. Dabei tragen Gas- und perspektivisch Wasserstoffspeicher wesentlich zur Stabilität und Sicherheit der Energieversorgung bei. Importabhängigkeit und Lieferkettenrisiken bestehen ebenso für die Importe von Energiewendetechnologien und (IT-)Komponenten, die zu einem großen Teil nicht in Deutschland und der EU produziert werden, sowie die Versorgung mit kritischen Rohstoffen, die für die Herstellung von sauberen Technologien unabdingbar sind.
Konflikte um Einflusssphären nehmen zu
Die globale Weltordnung wird durch Multipolarität und wachsende Instabilität geprägt. Das geht einher mit geopolitischen Machtkonkurrenzen und geoökonomischem Wettbewerb um Wertschöpfung. Sichtbar wird dies nicht nur im Krieg Russlands gegen die Ukraine, sondern auch in zunehmenden Konflikten um Einflusssphären und dem Streben nach wirtschaftlicher und technologischer Dominanz, sowohl in China als auch in den USA. Wirtschaftliche Verflechtung wird in den politischen Auseinandersetzungen zum eigenen Vorteil und Machtgewinn instrumentalisiert. Auch der Energiesektor bleibt davon nicht unberührt. Mit dem Wegfall der USA als Garant der liberalen Weltordnung und der Unberechenbarkeit der US-Politik, darunter der protektionistischen Zoll- und Handelspolitik, schwindet eine Hauptgrundlage unseres Wachstums und Wohlstands.
Mehr Dezentralität durch Erneuerbare Energien
Die Auswirkungen der Transformation hin zu mehr Erneuerbaren Energien, darunter die damit einhergehende stärkere Dezentralität sowie Dargebotsabhängigkeit, führen zu steigenden Anforderungen an die Energienetze. Daraus leiten sich Optionen für einen höheren Grad an Eigenversorgung ab. All dies muss bei der Betrachtung der Resilienz des Energiesystems berücksichtigt werden.
Resilienz im Energiesektor: Definition, Zielsetzung und Merkmale von Resilienz
Resilienz kann definiert werden als die Fähigkeit des Energiesystems, auf externe Ereignisse wie Schocks und Krisen in einer Weise zu reagieren, dass die Versorgungssicherheit aufrechterhalten wird, möglichst schnell zum Ursprungszustand zurückzukehren bzw. sich in Richtung eines neuen, stabileren Zustands anzupassen.
Dabei steht auch die Frage im Mittelpunkt, wie robust das System als Ganzes bleibt, wenn einzelne seiner Bestandteile betroffen sind. Besonders kritisch können Situationen werden, wenn Interdependenzen zwischen Teilsystemen zu Kaskadeneffekten führen, die die Versorgungssicherheit und Stabilität des Gesamtenergiesystems gefährden.
Ein Schock ist ein plötzliches, unerwartetes Ereignis (etwa ein Stopp von Energielieferungen oder eine großflächige Störung wichtiger Infrastruktur bspw. durch Überflutung) mit kurzfristiger, aber potenziell starker Auswirkung, das eine schnelle Reaktion erfordert. Eine Krise ist eine länger andauernde, tiefgreifende Störung eines Systems, die mit anhaltender Unsicherheit und strukturellen Herausforderungen verbunden ist (zum Beispiel verschärfte hybride Angriffslage).
Versorgungssicherheit – als Teil des energiepolitischen Dreiecks – ist die übergreifende Zielsetzung von Resilienz. Sie ist gegeben, wenn das Gleichgewicht zwischen Energieversorgung und Energiebedarf jederzeit sichergestellt werden kann. Davon unberührt bleibt die Tatsache, dass Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit als die beiden anderen Elemente des energiepolitischen Dreiecks immer auch essenzielle Teile energiepolitischer Abwägungen sein müssen.
Das gewünschte Absicherungsniveau festzulegen, ist eine staatliche Aufgabe. Dabei ist nicht nur mit Blick auf die Redundanz der Grundsatz n-1, sondern auch die Nutzung unterschiedlicher Energieträger und deren Einbettung und Rolle in unterschiedlichen Wertschöpfungsnetzwerken zu berücksichtigen. Im Bereich der Stromnetze sind Erzeugungs- und Netzadäquanz sowie Systemstabilität für die Sicherstellung der Versorgungssicherheit erforderlich. Die nachgefragte Strommenge muss jederzeit durch entsprechende Erzeugungsleistung und das Vorhandensein der notwendigen Transportkapazität bedient werden können.
Die Systemstabilität umfasst die Einhaltung aller technischen und betrieblichen Grenzwerte während des Normalbetriebs sowie die Fähigkeit, nach dem Auftreten einer Störung zuverlässig zum Normalbetrieb zurückzukehren.
Als übergeordneter Zweck von Resilienz kann strategische Souveränität angesehen werden. Das heißt, die Fähigkeit, eigene – nationale oder europäische – Interessen zu definieren und gemäß diesen zu handeln, ohne dabei übermäßig von externen Akteuren abhängig und dadurch in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt zu sein.
Resiliente Systeme zeichnen sich durch folgende Merkmale aus:
Absorptionsfähigkeit bezeichnet die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung der Systemkontinuität bei einer Störung.
Wiederherstellungsfähigkeit ist die Fähigkeit, die Funktionsleistung nach einer Störung wiederherzustellen und die Auswirkungen rückgängig zu machen.
Anpassungsfähigkeit bezeichnet die Fähigkeit des Systems, sich langfristig anzupassen und zu lernen; hierzu können Prozesse und Strukturen verändert oder neue Instrumente eingeführt werden.
Resilienzfaktoren wie Flexibilität, Vorbereitungsfähigkeit, Antizipationsvermögen oder graduelle Erweiterbarkeit können gleichermaßen die Absorptionsfähigkeit, Wiederherstellungsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit eines Systems erhöhen.
Grundprinzipien eines resilienten Energiesystems
Für Maßnahmen, die auf die Stärkung von Resilienz abzielen, sind aus der Perspektive der Energiewirtschaft eine Reihe von Grundprinzipien anzuwenden. Dazu gehören der Dreiklang aus
Vorsorge für mögliche Schocks und Krisen;
Vorbereitung auf effektive Krisenbewältigung, auch bei unvorhersehbaren Ereignissen;
kontinuierliche Analyse und Monitoring.
Hierzu gehört auch die Entwicklung und fortlaufende Verbesserung von Risikominderungs- und Resilienzstrategien.
Klarheit bei einzelnen Maßnahmen, wie viel Verantwortung Verbraucherinnen und Verbraucher, Unternehmen und der Staat jeweils tragen. Unternehmen können nur jene Risiken tragen, die ihren wirtschaftlichen Fortbestand nicht gefährden bzw. die versicherbar sind. Den Unternehmen dürfen keine Aufgaben übertragen werden, die eine Verschiebung des staatlichen Gewaltmonopols bedeuten würden.
Das Verständnis, dass Resilienz im Rahmen der jeweiligen Rollen in der geteilten Verantwortung der Energieunternehmen, der Mitgliedstaaten und ihrer zuständigen Behörden sowie der EU liegt. Dieses dreistufige System – erstens Energieunternehmen; zweitens Mitgliedstaaten (inklusive Länder und Kommunen in ihren jeweiligen Zuständigkeiten); drittens die EU – sollte weiter gestärkt werden. Darüber hinaus sollten sich auch die Bürgerinnen und Bürger durch Vorsorge auf unerwartete Ereignisse vorbereiten, denn Resilienz ist eine Gesellschaftsaufgabe.
Die zentrale Bedeutung der europäischen Dimension. Resilienz sollte zusammen mit der Stärkung des EU-Energiebinnenmarkts, aber auch mit europäischer Industrie-, Handels- und Sicherheitspolitik gedacht werden. Ein kohärenter europäischer Rahmen mit einheitlichen Mindeststandards, Definitionen, Vorkehrungen zu Krisenvorsorge und -management wie auch zur Klimafolgenanpassung, sowie handels-, industrie- und außenpolitischer Begleitung ist positiv und wichtig. Auch die Koordinierung mit Nachbarstaaten ist essenziell.
Das Prinzip, marktliche Mechanismen (mit Ausnahme staatlich regulierter Bereiche) so lange wie möglich aufrechtzuerhalten und hoheitliche Eingriffe ausschließlich als Ultima Ratio einzusetzen. Preise sind, gerade auch in Krisen, ein wichtiges Steuerungsinstrument. In den Bereichen, in denen es staatlich gesetzter Anreize bedarf, um das gewünschte Niveau von Versorgungssicherheit zu erreichen, sind diese, entsprechend befristet, so auszugestalten, dass Fehlanreize vermieden werden.
Regelungen, Instrumente und Maßnahmen müssen umsetzbar sein. Wichtig ist, dass alle Beteiligten diese kennen, ihre Verantwortlichkeiten verstehen und anwenden können.
Resilienz in einzelnen Bereichen des Energiesystems und Synergien
Unter Beachtung der oben genannten Grundprinzipien sind Resilienzmaßnahmen in den einzelnen Bereichen des Energiesystems jeweils spezifisch auszugestalten. Aus BDEW-Sicht lassen sich folgende Bereiche identifizieren:
Versorgung mit gasförmigen Energieträgern: Für einen Zeitraum mit Gas/LNG, zudem mit Biomethan und perspektivisch mit Wasserstoff und seinen Derivaten, einschließlich Importe und heimischer Erzeugung, Gas- und perspektivisch Wasserstoffnetze und -speicher.
Produktion, Verfügbarkeit und Lieferketten von Energiewendetechnologien, IT-Komponenten und kritischen Rohstoffen, die für die Herstellung von sauberen Technologien notwendig sind.
Klimaresilienz von Energieanlagen und -infrastrukturen.
Schnittstellen, Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Bereichen, darunter in Form von Sektorkopplung, Energieträgerkopplung (Strom/Wasserstoff) und komplementären Infrastrukturen, sind dabei unbedingt zu berücksichtigen. Auch eine resiliente Versorgung mit Raffinerieprodukten wie Diesel, Kerosin und anderen ist von Bedeutung – insbesondere im Krisen- und Verteidigungsfall. Zukünftig umfasst dies ausdrücklich auch strombasierte synthetische Kraftstoffe (E-Fuels) als relevante Komponente der Dekarbonisierung.
Daneben gibt es eine Reihe von gesamtwirtschaftlichen, finanziellen und gesellschaftlichen Aspekten, die von Relevanz für die Resilienz des Energiesektors sind. Entscheidend für die Bestimmung der ggf. notwendigen Handlungsbedarfe ist auch ein gemeinsamer Szenariorahmen, der beschreibt, welche Ausprägungen mögliche Herausforderungen in welchem Zeitrahmen und mit welcher Wahrscheinlichkeit annehmen können. Hier sollte explizit auf die bereits vorliegenden bzw. permanent weiterentwickelten Arbeiten zurückgegriffen werden. Wo weitergehende Szenarien benötigt werden, sollte dies in einem breit abgestimmten Angang erarbeitet werden.
Ausblick: Engere Kooperationen angesichts volatiler geopolitischer Lage
Die Resilienz des deutschen und europäischen Energiesystems wird in den kommenden Jahren angesichts der volatilen geopolitischen Lage, der sich verschärfenden Auswirkungen des Klimawandels und fortschreitender Transformation für die Politik, die Wirtschaft und die Gesellschaft an Bedeutung gewinnen.
Um Resilienz erfolgreich zu stärken, braucht es akteurs-, sektor- und themenübergreifende Herangehensweisen. Dazu gehören eine engere Kooperation und vertrauensvolle Partnerschaften zwischen Unternehmen, Verbänden, der Regierung und weiteren staatlichen Stellen auf nationaler Ebene sowie den europäischen Institutionen.
Zivilgesellschaftliche Akteure und die Bevölkerung müssen eingebunden werden, und Analysen sowie Szenarienplanung als Grundlage für Risiko- und Resilienzstrategien müssen in enger Kooperation mit der Wissenschaft erfolgen. Innerhalb von Verwaltungen auf nationaler und europäischer Ebene muss noch stärker ressort- und bereichsübergreifend gearbeitet werden, um die Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen den Teilbereichen des Energiesystems und den angrenzenden Bereichen, wie etwa der Versorgung mit kritischen Rohstoffen, umfassend berücksichtigen zu können.