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Stefan Schulz:

„Schon jetzt ein Bröckeln des Generationenvertrags.“

Im Gespräch mit dem Soziologen und Autor des Buchs „Die Altenrepublik. Wie der demographische Wandel unsere Zukunft gefährdet.“

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© Robert Albrecht/BDEW

Herr Schulz, in Ihrem Buch "Die Altenrepublik" schreiben Sie, dass 2023 beim demografischen Wandel ein neues Kapitel aufgeschlagen wird. 
Richtig. Jetzt gerade erreicht der Geburtenjahrgang 1958 das Rentenalter, überschreitet also die 65-Jahres-Grenze. Damit geht ein Jahrgang in Rente, der zahlenmäßig größer ist als alle Jahrgänge, die wir bisher hatten. Und so geht das die nächsten 13 Jahre weiter, denn die Jahrgänge 1958 bis 1971 sind alle größer als die Jahrgänge davor und danach. Daraus ergeben sich massive ökonomische Herausforderungen, denn diese Kohorten wechseln in der Sozialversicherung die Seite – sie werden von Beitragszahlern zu Leistungsempfängern.

Immer weniger Erwerbstätige müssen immer mehr Rentner finanzieren. Das kann schon rein rechnerisch nicht gutgehen. In den nächsten 13 Jahren gehen 18 Millionen Menschen in Rente, aber nur elf Millionen werden volljährig. Wir haben also eine Lücke von sieben Millionen. Die birgt sozialen, politischen und ökonomischen Sprengstoff. 

Werden wir alle ärmer? Müssen wir unsere Geburtsraten steigern?
Wenn wir alle unseren Lebensstandard einigermaßen halten wollen, müssen wir das, denn neben den Einwanderungsquoten sind die Geburtenziffern der wichtigste Hebel. Aktuell haben wir in Deutschland eine Geburtenziffer von 1,5. Jede Frau bringt also statistisch 1,5 Kinder zur Welt. Das ist wenig. Mal zum Vergleich: Demografen sagen, dass angesichts der Sterbezahlen eine Geburtenziffer von 2,1 Stagnation bedeutet. Auf 2,1 kommen wir aber realistisch wohl nicht mehr, daher entwerfen Demografen das Szenario, dass wir mit einer Geburtenziffer von 1,8 eine Art „sanften Sinkflug“ der Bevölkerungsentwicklung erreichen, den man ohne drastische Verluste hinnehmen und auch politisch steuern kann.

Wenn wir hingegen bei der aktuellen Geburtenziffer bleiben, werden wir es mit ernsthaften politischen und ökonomischen Turbulenzen zu tun bekommen, die noch deutlich zunehmen werden. Das ist ein Klimawandel der Demografie: Er kommt langsam, aber er kommt gewaltig. 

Welche Rolle spielt Migration? Kann sie uns helfen?
Im Prinzip ja. Wir hatten in den alten Bundesländern schon mal einen Jungbrunnen, wie ihn kein anderes Land auf der Welt erlebt hat: den Mauerfall. Drei Millionen junge Ostdeutsche sind einfach nach Westdeutschland gegangen und haben vornehmlich die bayerische und die baden-württembergische Volkswirtschaft verjüngt und erfolgreich gemacht. Doch so etwas ist unwiederholbar – wenn man nicht gezielt und strukturiert auf deutlich mehr Zuwanderung als bisher setzen mag. Ich fürchte allerdings, dass wir hierzulande noch weit davon entfernt sind, eine solche Diskussion scheuklappenfrei zu führen. 

Die ökonomischen Herausforderungen haben Sie schon angesprochen. Was sind die politischen?
Wir sehen schon jetzt ein Bröckeln des Generationenvertrags. In manchen Bundesländern haben wir schon bald mehr Menschen mit Pflegestufe als Wähler unter 30. Das ist eine ernstzunehmende Schieflage, denn das hat einen Einfluss auf die Themen, die bei den Wahlkämpfen nach vorne gestellt werden. Junge Erwachsene kommen da nicht mehr zur Geltung. Und für jeden Elternteil in Deutschland, der noch Kinder zu Hause hat, haben wir drei Rentner, die auch wählen dürfen.

Wenn Sie also die Wählermacht auf die Altersgruppen verteilen, dann gibt es die Generationengerechtigkeit schon lange nicht mehr. Wenn wir einfach so weitermachen und stoisch Stimmen auszählen, dann landen wir ganz reell in einer Altenrepublik, in der faktisch die Über-65-Jährigen regieren. 

Ein klassisches Dilemma. Wie könnte ein Ausweg aussehen?
Wir müssen uns jetzt ganz bewusst fragen, wie ein politischer Diskurs aussehen kann, bei dem wir nicht an den demokratischen Prinzipien der Mathematik rütteln wollen und trotzdem Räume öffnen. Wir brauchen Wahlkämpfe, die deutlich vielschichtiger sind und sich auch mal explizit an Eltern, an Unter-30-Jährige richten. Wir brauchen Veranstaltungen, Jugendparlamente, echten Diskurs.

Aber um das „Wie“ ist mir gar nicht so bange. Wir sehen ja, dass komplexe Krisenthemen wie eine Pandemie oder geopolitische Verwerfungen durchaus ihren Widerhall im breiten öffentlichen Diskurs finden. Was ich vermisse: Das Thema Demografie muss überhaupt erst einmal auf den Tisch, das haben wir bisher mehr oder weniger verschlafen. 

Geburtenziffern zu steigern – das kann man nicht anordnen. Wie können wir junge Menschen heute motivieren, Familien zu gründen, Kinder zu bekommen?
Das zentrale Problem ist, dass die Mehrheit der jungen Menschen mehr als die Hälfte ihres Monatseinkommens für die Miete ausgeben. Wie soll sich jemand angesichts dieser Quote ernsthaft noch Gedanken um eine Altersvorsorge, geschweige denn Familienplanung machen?

Wir müssen als erstes Mittel und Wege finden, die Mieten wieder bezahlbar zu machen. Der gesamte Immobilienmarkt ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Das betrifft die Mieten genauso wie die Immobilienkaufpreise, die in keiner Weise mehr sinnvoll ökonomisch gerechtfertigt werden können. 

Mieten und Kaufpreise senken, das sagt sich leicht, doch wie soll das gehen?
Ich glaube, wir müssen das Thema Wohnen komplett neu denken, das betrifft die Stadtplanung und -architektur ganz generell. Warum sitzen denn heute so viele Rentner einsam in riesigen Wohnungen? Warum können wir denen nicht schöne, attraktive, lebenswerte Wohnkomplexe bauen, in denen sie es gut haben? Und die dadurch frei werdenden, viel zu großen Wohnungen wieder für Familien nutzbar machen?

Sie selbst haben drei Kinder. Was lässt Sie positiv in die Zukunft blicken?
Dass wir in diesem Land durchaus lernfähig sind. Schauen Sie, die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass wir alle leidenschaftlich und kontrovers über Inzidenzen und Reproduktionsraten debattierten. Im Grunde geht es bei der Demografie um genau die gleichen Themen. Und ich sehe, dass sich Dinge bewegen.



Hier in Frankfurt, wo wir wohnen, kandidiert ein 40-jähriger Mann mit syrischen Wurzeln in der Bürgermeisterstichwahl. Er hat sich Klimaschutz und bezahlbare Wohnungen auf die Fahnen geschrieben. Ich glaube, wenn wir das Thema Demografie jetzt breit diskutieren und Lösungen finden, dann haben unsere Kinder Chancen für eine gute Zukunft. 

Herr Schulz, vielen Dank für das Gespräch.

Stefan Schulz…

… ist Soziologe, Journalist und Publizist. Seit dem Jahr 2020 ist er gemeinsam mit Wolfgang M. Schmitt Moderator des Podcastes "Die Neuen Zwanziger" mit rund 50.000 regelmäßigen Hörern.

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