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Kenza Abbou:

„KI hält uns den Spiegel vor.“

KI: Große Erwartungen, große Risiken? Im Gespräch mit Kenza Ait Si Abbou.

Portrait Kenza Abbou

© Robert Albrecht / BDEW

 

Frau Abbou, viele Menschen berichten davon, dass sie beim ersten Kontakt mit Künstlicher Intelligenz einen Gänsehautmoment erlebt haben – eine Mischung aus Staunen und Respekt. Erinnern Sie sich an Ihren persönlichen Aha-Moment mit KI?
Unbedingt. Ich hatte einen solchen Moment während meines Studiums im Jahr 2000. Damals war KI noch kein großes Thema, aber an meiner Elektrotechnik-Uni waren neuronale Netze sogar Pflichtstoff. In einem der Kurse demonstrierte unser Professor, wie man mit KI eine lebensbedrohliche Krankheit diagnostizieren kann – Brustkrebs. Das war für mich ein positiver Schock, ein Schlüsselerlebnis. Plötzlich war da ein greifbarer, lebensnaher Anwendungsfall für all die abstrakte Theorie, mit der wir uns sonst beschäftigten.

Wo sehen Sie darüber hinaus wichtige Einsatzfelder für KI – gerade auch in der Energiebranche?
Neben dem Gesundheitswesen sind der Umwelt- und Energiesektor besonders relevant. KI kann dabei helfen, Prozesse zu optimieren oder Ressourcen schonender und effizienter zu nutzen – und somit brachliegende Einsparpotenziale heben.

Im Energiesektor hilft KI beispielsweise schon heute dabei, präzisere Last- und Nachfrage-Prognosen zu erstellen. Je genauer die Vorhersagen, desto größer die Ersparnis bei den Ausgleichskosten. Wir reden hier über Millionenbeträge. Auch Wetter- und Erzeugungsprognosen können mit KI deutlich mehr Detaildaten, etwa lokales Mikroklimas, berücksichtigen. Für die Wirtschaftlichkeit von Solaranlagen ist diese Prognosequalität ein Schlüsselfaktor, angefangen bei der Planung und Finanzierung bis hin zu Betrieb und Vergütungsmodellen.

Auch im Kundendienst kann KI erhebliche Einsparungen ermöglichen, indem sie – Stichwort Predictive Maintenance - unnötige Technikerbesuche verhindert und die Produktivität von Mitarbeitern vor Ort verbessert. Und um ein drittes Beispiel zu nennen: Für eine erfoglreiche Energiewende benötigen wir intelligente Stromnetze, die helfen, Lastspitzen zu vermeiden, indem sie als Energiemanagementsysteme auch die Masse an Privathaushalten berücksichtigen. Hier könnte KI perspektivisch Elektroautos gezielt als Zwischenspeicher einsetzen, um das Netz zu entlasten.

Kommen wir zur Technik selbst: Wie wichtig ist die Größe eines Datensatzes für ein KI-Modell – und gibt es da auch Grenzen?
Das kommt drauf an. Es gibt nicht „die eine KI“. Nicht jede KI braucht riesige Datenmengen. Klassische Machine-Learning-Methoden kommen oft mit deutlich weniger aus – und liefern trotzdem verlässliche Ergebnisse, zum Beispiel in der medizinischen Diagnostik. Generative KI hingegen – etwa große Sprachmodelle wie GPT – sind extrem daten- und energiehungrig. Aber sie sind auch für ganz andere Aufgaben konzipiert, etwa die Textgenerierung oder Sprachverarbeitung, nicht für spezifische Diagnosen oder industrielle Prozesse. Deshalb gilt: Man sollte immer das passende Werkzeug für die jeweilige Aufgabe wählen – und nicht versuchen, mit der KI-Kanone auf jeden Spatzen zu schießen.

KI ist also kein Allheilmittel.
Absolut. Das ist einer meiner wichtigsten Punkte, wenn ich über das Thema referiere – auch in der Beratung. Viele Unternehmen springen auf den KI-Zug auf, weil es gerade angesagt ist. Aber in manchen Fällen genügt auch ein gut konfiguriertes Excel-Makro. Der entscheidende Schritt ist immer: zuerst das Problem klar definieren. Erst dann kann man beurteilen, ob und welche KI-Lösung sinnvoll ist.

KI ist mittlerweile omnipräsent – und die Entwicklung beschleunigt sich gerade rasant. Welche großen gesellschaftlichen Fragen müssen wir jetzt klären?
KI ist gekommen, um zu bleiben. Und sie wird unsere Gesellschaft dauerhaft und tiefgreifend verändern. Besonders in Kombination mit Robotik - ich denke da an humanoide Roboter mit scheinbar empathischem Verhalten - betreten wir technologisches Neuland. Gleichzeitig prägt unser digitales Verhalten die Systeme, mit denen wir interagieren: Jeder Klick, jedes Like, jeder Swipe beeinflusst die Algorithmen – oft ohne, dass uns die Tragweite bewusst ist. Deshalb brauchen wir massive Aufklärung und Bildung – nicht nur in Schulen, sondern lebenslang.

Haben wir dafür genug Zeit? Oder läuft uns die KI schon davon?
Genau darin liegt die Herausforderung. In vielen Bereichen, insbesondere der Bildung, besteht dringender Reformbedarf. Das aktuelle Schulsystem ist veraltet, überfrachtet und nicht mehr zeitgemäß. Es stammt aus einer Ära, in der Menschen für die Arbeit am Fließband ausgebildet wurden, nicht für die heutigen Herausforderungen einer digitalen und technologischen Zukunft. Deshalb braucht es einen radikalen Neustart: Das bestehende Curriculum sollte grundlegend neu gedacht und an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts angepasst werden. Gleiches gilt für die Erwachsenenbildung. Die Vorstellung, dass Lernen mit dem Studienabschluss endet, ist überholt.



Bekannt ist, dass KI mit unseren Daten weiterlernt – auch mit unseren Vorurteilen. Kann KI jemals diskriminierungsfrei sein?
Theoretisch ja – zumindest bis zu einem gewissen Grad. Man kann Datensätze auf Verzerrungen prüfen und Modelle entsprechend anpassen. Doch sobald die KI mit der realen Welt interagiert, schleichen sich wieder neue Verzerrungen ein, weil auch wir Menschen nicht neutral sind. Deshalb braucht es regelmäßige Prüfungen und Korrekturen – auch im laufenden Betrieb. Hier liegt die Verantwortung nicht nur bei denen, die KI-Systeme entwickeln, sondern auch bei denen, die KI-Systeme nutzen. Am Ende hält uns KI den Spiegel vor, gerade in Bezug auf Diskriminierung. Gerade für Menschen, die selbst nicht davon betroffen sind, können KI-Analysen ein Augenöffner sein.

Denken Sie, dass KI jemals echtes Bauchgefühl, echte menschliche Intuition ersetzen kann?
Intuition ist in der Tat ein sehr komplexes Phänomen. Was wir als Bauchgefühl wahrnehmen, ist oft das Ergebnis jahrelanger Lebenserfahrung, erlernter Muster und emotional geprägter Erinnerungen. Unser Gehirn speichert diese Erfahrungen, meist unbewusst, und greift in Bruchteilen von Sekunden darauf zurück. Man könnte sagen: Intuition ist eine Form von implizitem Wissen, das sich unserem bewussten Zugriff entzieht, aber dennoch maßgeblich unsere Entscheidungen beeinflusst. Sie basiert nicht nur auf abstrakter Datenverarbeitung, also rational Erlerntem, sondern ist ein tiefes Zusammenspiel von Emotionen, unbewusstem Wissen und auch körperlichen Reaktionen.

Technologisch gesehen kann KI solche Entscheidungsprozesse durch Datenanalyse und Mustererkennung durchaus nachbilden. Sie hat aber keine eigene Subjektivität. In dieser Hinsicht wird ihr der Mensch immer eine Nasenlänge voraus sein.

Frau Abbou, vielen Dank für das Gespräch.

Kenza Ait Si Abbou

ist Ingenieurin und KI-Expertin mit Berufsstationen bei der Deutschen Telekom, IBM und Fiege. Sie wurde 2022 zu einer von fünf „LinkedIn Top Voices Technology und Innovation“ ernannt und bekam 2020 den FemTec-Award in der Kategorie Innovation.

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