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DIW-Chef Marcel Fratzscher:

„Staat muss Rahmenbedingungen setzen“

Der Ökonom und DIW-Präsident Marcel Fratzscher fordert in Krisen staatliches Handeln – und benennt ein Tabu.

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© Robert Albrecht / BDEW

Herr Professor Fratzscher, von Corona bis zur Bewältigung der Energiepreiskrise infolge des Ukrainekriegs: In den vergangenen Jahren hat der Staat in vielen Situationen stark ins Marktgeschehen eingegriffen. Wie beurteilen Sie das?
Professor Marcel Fratzscher: In einer modernen Marktwirtschaft brauchen wir eine gute Balance zwischen Staat und Markt. Wir haben seit den 1980er-Jahren eine überschießende Rolle des Marktes gesehen. Der Neoliberalismus, also die Idee „Der Markt kann alles besser als der Staat“ ist krachend gescheitert. Das sah man in der globalen Finanzkrise 2008/2009, das sieht man beim Klimaschutz. In großen Krisen kann nur der Staat Sicherheit und Stabilität bieten.

Die künftigen Herausforderungen werden in Zeiten des Klimawandels nicht geringer sein. Welche Rolle sollte der Staat hierbei spielen?
Der Staat muss erstens Rahmenbedingungen setzen: einen starken, fairen und unverzerrten Wettbewerb schaffen, damit Innovation und Fortschritt möglich werden. Zweitens ist – ähnlich wie Stabilität in Krisenzeiten – auch Innovation nicht ohne den Staat möglich: Der Staat ist der Einzige, der wirklich ins Risiko gehen kann, auch finanziell. Er muss nicht wie ein Unternehmen profitabel sein, sondern muss sich darauf fokussieren: Was schafft Wohlstand? Ein Beispiel dafür, wie Staat und Markt hier zusammengehören, liefert die Firma BionTech. Ja, sie ist ein privates Unternehmen. Doch ohne die Patente, die durch staatlich geförderte Grundlagenforschung erzielt wurden, hätte BioNTech den Erfolg nicht verbuchen können. Der dritte Punkt: Dem Staat muss es eben darum gehen, Daseinsfürsorge zu gewährleisten. Also dafür sorgen, dass die Gesellschaft als Ganzes funktioniert und die Bedingungen nicht nur für Einzelne stimmen.

Wie bewerten Sie das Gebäudeenergiegesetz vor dem Hintergrund nötiger Innovationen?
Inhaltlich ist das Gebäudeenergiegesetz richtig. Wenn wir die Klimaschutzziele erreichen wollen, brauchen wir eine Wärmewende. Und es ist technologisch richtig, weil es darin um deutlich effizientere Technologien geht. Der Staat muss außerdem dafür sorgen, dass Unternehmen ebenso wie Verbraucherinnen und Verbraucher die Kosten ihres eigenen Handelns tragen. Im Verkehr und anderen Sektoren werden Kosten verursacht, die nicht von den Verursachenden getragen werden, sondern von anderen oder von künftigen Generationen. Um ein solches Marktversagen zu verhindern, kann der Staat Marktmechanismen wie Preise nutzen. Doch es braucht außerdem einen regulatorischen Rahmen. Der Begriff „Technologieoffenheit“ ist in vielen Fällen manipulativ. Was ist erlaubt, was ist nicht erlaubt in einem fairen Wettbewerb? Darüber zu entscheiden, ist vom Staat nicht übergriffig, sondern dringend notwendig, damit Klimaschutz überhaupt möglich ist.

In welche Entwicklungen sollte der Staat nicht eingreifen?
Marktwirtschaftlicher Wettbewerb bedeutet, Unternehmen müssen sich messen – und die, die es nicht schaffen, verschwinden aus dem Markt. Manche Menschen verlieren dadurch ihre Arbeit, aber es entstehen auch bessere Arbeitsplätze und langfristig sind alle besser dran. Die ökologische und digitale Transformation bringt mit sich, dass viele Unternehmen in Deutschland in den nächsten fünf bis zehn Jahren verschwinden, weil Neues entstehen muss. Diese Transformation ist richtig und notwendig. Versuche des Staates, Unternehmen zu retten, sind letztlich kontraproduktiv.

Welche Wirkung entfalten die staatlichen Maßnahmen zur Abfederung der Energiekrise?
Infrage kommt eine Besteuerung von Übergewinnen – etwa im vergangenen Jahr bei Erneuerbaren Energien, die mehr oder weniger zu den gleichen Kosten produziert wurden wie vorher, aber plötzlich ein Vielfaches der Preise erzielen konnten. Ich halte es für legitim, in solchen außergewöhnlichen Zeiten leistungslose Gewinne zusätzlich zu besteuern. Das noch wichtigere Instrument ist der Preis: Nur wenn die Preise die wirklichen Kosten widerspiegeln, haben Unternehmen sowie Verbraucherinnen und Verbraucher Anreize, neue Technologien einzuführen. Die Gas- und Strompreisbremse hat dazu geführt, dass notwendige Einsparungen fossiler Energien nicht oder in geringerem Umfang stattgefunden haben. Und aus sozialer Perspektive hätte ich mir gewünscht, dass man nicht denen mehr Geld gibt, die viel verbrauchen. Menschen mit mittleren und geringen Einkommen durch Transferzahlungen zielgenau zu entlasten, wäre aus ökonomischer Sicht das deutlich bessere Instrument gewesen.

Welche Zusatzlast tragen Menschen mit geringen Einkommen durch die Inflation?
Tatsache ist, dass Menschen mit geringen Einkommen gerade in Bezug auf Energiekosten eine doppelt bis dreimal höhere Inflation haben, weil sie einen viel höheren Anteil ihres monatlichen Einkommens für Energie ausgeben müssen. Es geht um Heizen, Kochen, den Weg zur Arbeit; da kann man nicht einfach einmal weniger Urlaub machen im Jahr, um zu sparen. Und Deutschland hat einen ungewöhnlich großen Niedriglohnbereich. Diese Problematik zeigt sich auch daran, dass 40 Prozent der Haushalte keine Ersparnisse haben. Die gestiegenen Energiekosten setzen deshalb extrem viele Menschen unter Druck.

Ist Deutschland ein unfaires Land?
In unseren wissenschaftlichen Studien sehen wir, dass die Menschen in Deutschland Gerechtigkeit überwiegend nach zwei Dimensionen definieren. Die eine ist Leistungsgerechtigkeit: Leute, die viel leisten, sollen auch viel Einkommen und Unterstützung erhalten. Die andere ist Bedarfsgerechtigkeit: Jeder Mensch soll zumindest eine gute Grundlage haben, auf der er seine Bedürfnisse und die seiner Familie decken kann. Und genau bei dieser zweiten Definition von Gerechtigkeit macht der Staat im Augenblick keine gute Arbeit. Die Gas- und Strompreisbremse und den Umgang mit der Inflation nehmen viele als ungerecht wahr, und ich kann das voll und ganz nachvollziehen.

Es geht dabei vor allem um wirtschaftlichen Wohlstand. In einem Interview haben Sie einmal weitere Aspekte aufgezählt, die Wohlstand ausmachen: Gesundheit, Umwelt, sozialer Frieden und Glück bzw. Lebenszufriedenheit. Werden diese in unserer Gesellschaft wahrgenommen?
Ja, natürlich. Ich erlebe gerade bei jungen Menschen große Sorge um die Zukunft, um Klima und Umwelt. Wenn man sich die wissenschaftlichen Zahlen und Fakten anschaut, müssten alle Alarmglocken läuten. Wir sind mit Vollgas dabei, einen Schaden an Klima und Umwelt anzurichten, der viele der Dinge, die ein gutes Leben ausmachen, zunehmend gefährdet: eine intakte Umwelt, eine Lebensgrundlage, sozialen Frieden, die Abwesenheit geopolitischer Konflikte. Ich würde mir wünschen, dass die Politik, aber auch die Menschen mehr Weitblick hätten und mehr Solidarität auch mit künftigen Generationen zeigen würden.

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