Stadt in der Wüste:

Erfolg auf ganzer Linie?

In der Wüste von Saudi-Arabien haben die Arbeiten für eine Stadt begonnen, wie es sie noch nie gegeben hat: The Line.

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© Robert Albrecht / BDEW

Es gehört zu den großen Herausforderungen der Mobilitätswende, dass sie – wenn sie umfassend und nachhaltig implementiert werden soll – erhebliche Einflüsse auf die Architektur von urbanen Räumen und Landschaften hat. Bestehendes muss teils erhalten, teils abgerissen werden, Neues muss zugleich seinen Platz finden. Strukturen und Verkehrsflüsse ändern sich, es gilt Neuland zu betreten und Existierendes zu integrieren.

Umso verlockender ist daher für Ingenieure, Architekten und Stadtplaner der Gedanke, einmal kompromisslos und völlig neu „auf der grünen Wiese“ zu beginnen, um Stadt- und Mobilitätsplanung von Anfang an konsequent durchzuführen. So oder ähnlich soll es in Saudi-Arabien geschehen, allerdings nicht auf der grünen Wiese, sondern in der Wüste …

Utopische Architektur, utopische Ziele?

Es könnte atemberaubend aussehen: Eine 170 Kilometer lange und 500 Meter hohe, verspiegelte Wand, mitten im Nirgendwo der Wüste. Von oben betrachtet, reflektiert das Bauwerk den blauen Himmel. Blickt man vom Boden darauf, spiegelt die gigantische Konstruktion die umliegende Landschaft und integriert sich so in sie.

So soll es im Jahr 2045 in der Wüste von Saudi-Arabien aussehen, wenn die Pläne der dortigen Machthaber Wirklichkeit werden. Die verspiegelte Außenwand ist Teil von „The Line“, einer von Grund auf neu entworfenen Megastadt. Knapp neun Millionen Menschen sollen hier einmal leben. Klimaneutral, ohne die Notwendigkeit von Autos oder Straßen. Privates Leben und Arbeit sollen nah beieinander liegen, jeder Punkt in der Stadt von jedem anderen Punkt aus in 20 Minuten erreichbar sein. Und alles, was man im Alltag benötigt oder erleben will, soll maximal fünf Minuten entfernt sein.

Völlig losgelöst

Neue Arten der Mobilität, des Lebens, der Gewinnung von Energie - die Planer von „The Line“ wittern die Chance, das Konzept Stadt völlig losgelöst von gewachsenen Strukturen zu denken. Das fängt bei den Dimensionen an. Ihren Namen trägt „The Line“, weil sie nur 200 Meter breit werden soll, dafür aber 500 Meter hoch und 170 Kilometer lang.

Im Wesentlichen soll sie aus zwei sich gegenüberliegenden langen Hochhausriegeln bestehen. Dazwischen liegt eine Freifläche, der so genannte „Canyon“. Arbeitsplätze, Bildungs- und Freizeitangebote wie Universitäten, Fußballstadien, Theater oder Bibliotheken sollen in diese Struktur integriert werden.

So könnte die Stadt mit nur 34 Quadratkilometern Grundfläche auskommen: Laut Eigenwerbung der Planer nur zwei Prozent dessen, was eine konventionelle Neun-Millionen-Stadt an Fläche benötigt. „Es wird auch die erste Stadt der Welt sein, die vollständig mit erneuerbaren Energien betrieben wird – mit einem Null-Kohlenstoff-Fußabdruck“, erklärt Giles Pendleton in einem Interview  auf der offiziellen Website von „The Line“. Der Australier ist der CEO des Projekts.

Klimaneutrales, abgeschlossenes System

Wind und Sonne sollen die Retortenstadt mit Energie speisen. Für ein angenehmes Klima – und auch für Lebensmittel - soll eine ausgeklügelte Bepflanzung der Fassaden zwischen den Häuserblöcken sorgen. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz will sich die Stadt den Bedürfnissen ihrer Bewohner mehr und mehr anpassen. Sie könnte sich beispielsweise „merken“, dass ein Bewohner montags bis freitags stets zur gleichen Zeit aus der 58. Etage fährt, um zu seinem Arbeitsplatz zu kommen. Ein entsprechender Aufzug soll dann schon bereitstehen. Ähnliches wäre auch bei anderen Transportsystemen denkbar, bei der Beleuchtungssteuerung oder der Bereitstellung von Mahlzeiten in Kantinen und Restaurants.

Den zügigen Transport soll ein ausgeklügeltes System aus Hochgeschwindigkeitszügen, U-Bahnen und horizontalen Transportsystemen in den höheren Etagen erledigen. Und die Lage? Man verweist darauf, dass 40 Prozent der Welt weniger als sechs Flugstunden entfernt seien. Ein guter Platz zum Leben und Arbeiten also. Rund 200 Milliarden Dollar will Saudi-Arabien in die Vision investieren. Im Jahr 2030 könnten hier laut Pendleton bereits fast eine Million Menschen leben.

The Line: So könnte es aussehen

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Allerdings sind viele Experten skeptisch, ob das wirklich so kommen wird. Das liegt nicht zuletzt daran, dass zumindest bisher kaum kommuniziert wird, wie die Stadt im Detail funktionieren soll. Auch die einzelnen Schritte des Zeitplans sind nicht klar. Drohnenaufnahmen von Anfang 2023 zeigen zwar eine große Menge Maschinen, die in der Wüste Tiefbauarbeiten ausführen. Und im Interview verriet Pendleton, dass modulares Bauen und die industrielle Fertigung von Bauelementen einen schnellen und effizienten Fortschritt ermöglichen sollen. Doch wenn es an das „wie genau?“ geht, bleibt vieles im Dunkeln.

Kreis oder Linie? Rechnerische Annäherung an ein Mobilitätskonzept

Was sich ein Stück weit prüfen lässt, ist das Versprechen, jeder Punkt von „The Line“ werde sich innerhalb von 20 Minuten erreichen lassen. Der Mathematiker Rafael Prieto-Curiel und der Physiker Dániel Kondor vom Complexity Science Hub Vienna versuchten, sich dem Projekt arithmetisch zu nähern. In einem Beitrag für das Fachmagazin „NPJ urban sustainability“ schlagen die zwei Wissenschaftler einen kreisförmigen Aufbau der Stadt vor – um die Mobilität seiner BewohnerInnen zu verbessern. Denn sie kamen zu dem Ergebnis, dass zwei Menschen in „The Line“ durchschnittlich 57 Kilometer voneinander entfernt leben.

Damit jeder Einwohner einen Halt in Laufnähe habe, seien 86 Stationen des unterirdischen Bahnsystems nötig. Daraus würde sich nach den Berechnungen der beiden Wissenschaftler aber eine durchschnittliche Fahrtzeit von mehr als 60 Minuten von Startpunkt zu Wunschziel ergeben – weit mehr als die maximal 20 Minuten, die die Planer von „The Line“ versprechen.

Wer nun recht hat, die The-Line-Planer oder die Mathematiker – es lässt sich schwer sagen. Denn weder gibt Saudi-Arabien Informationen darüber heraus, welche Art von Zügen installiert werden sollen, noch mit welcher Reisegeschwindigkeit sie unterwegs sein werden. Fakt ist jedoch, dass selbst Höchstgeschwindigkeitszüge nur einen begrenzten Zeitvorsprung sicherstellen können, weil die zahlreichen notwendigen Zwischenstopps mit Ein- und Aussteigevorgängen die Gesamtbilanz wieder schmälern.

„Das Transportsystem ist einer der wichtigsten Faktoren“, erklärt Dániel Kondor. „Und dafür hat die Stadt eine der schlechtesten denkbaren Formen.“ Prieto-Curiel und er rechnen vor, dass die Grundfläche von „The Line“ bei kreisförmiger Anordnung einen Durchmesser der Stadt von nur 6,6 Kilometer bedeuten würde. Bewohner wären dann im Durchschnitt nur 2,9 Kilometer voneinander entfernt – statt 57 Kilometer wie in „The Line“.

Warum also eine Linie und kein Kreis? Es könnte auch damit zu tun haben, dass die futuristisch anmutende Häuserfront des 170 Kilometer langen Gebäudes sich besser vermarkten lasse, vermuten BeobachterInnen.

Mammutprojekt mit Hypothek bei Lebensqualität und Menschenrechten?

Neben der – außer Marketingaussagen – quasi nicht existenten Informationspolitik der The-Line-Plane gibt es noch zahlreiche weitere Kritikpunkte: So ist bekannt, dass für das Projekt Beduinenstämme weichen mussten, die vorher auf dem Baugrund in der Wüste lebten. Generell zeigt sich der autokratische Staat in Bezug auf Menschenrechte als höchst problematisch. So erzielte Saudi-Arabien im Bertelsmann-Transformationsindex (BTI) aus dem Jahr 2022 lediglich 2,5 von 10 Punkten im Bereich der Demokratie. Der Amnesty-International-Jahresbericht aus 2022 beklagt unter anderem unfaire Gerichtsverfahren, rechtswidrige Zwangsräumungen, fortwährende Diskriminierung von Frauen sowie Folter und Misshandlungen.

Auch das Versprechen von der klimaneutralen Stadt „The Line“ ist äußerst umstritten. Denn selbst, wenn „The Line“ im Alltag nach ihrer Fertigstellung wirklich CO2-neutral funktionieren würde, bliebe da immer noch die enorme Klima-Hypothek durch den Bau und die dabei verwendeten Mengen an Beton und anderen Baustoffen.

Ein anderer Punkt ist die Lebensqualität: Professor Dirk Wittowsky, Leiter des Instituts für Mobilitäts- und Stadtplanung der Universität Duisburg-Essen, befürchtet ein völlig neues Maß von Überwachung der Bewohner und Reglementierung des Lebens: „Eine smarte Retortenstadt kann sich nur dann ihren BewohnerInnen anpassen, wenn diese im Gegenzug bereit sind, ihren Alltag beobachtbar zu machen. Da stellt sich schon die Frage, wie abhängig man sich machen und was man wirklich von sich preisgeben will.“



Trotzdem sieht Wittowsky nicht nur Negatives an der Stadt aus der Retorte: „CO2-neutral, kurze Wege, gemischte Nutzungen“, zählt er auf, „das versuchen auch viele europäische Städte umzusetzen. Da will ich als Planer auch hin.“ Gegebenenfalls müsse man bei derartigen Projekten Fehlplanungen zugeben und nachsteuern. Dániel Kondor vom Complexity Science Hub Vienna argumentiert ähnlich: „Viele Menschen auf der Welt haben keinen guten Platz zum Leben. Wir werden viele Städte bauen müssen.“ Deshalb sei es gut, dass es auch radikale Ideen gebe. „Aber der praktische Unterbau muss stimmen.“

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