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Essay:

Netze und Infrastrukturen als Zeitzeugen

Wie unsere Infrastrukturen und Netze gesellschaftliche und technologische Veränderungen widerspiegeln.

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© Robert Albrecht/BDEW

Neue bahnbrechende Technologien, gesellschaftliche Veränderungen oder neue wissenschaftliche Erkenntnisse etwa über die Auswirkungen des Klimawandels wirken sich massiv auf Netze und Infrastrukturen aus. Mussten Netzinfrastrukturen früher die zentrale Energieproduktion in wenigen Großkraftwerken abbilden, geht es heute um das Mammutprojekt einer dezentralen Energiewende mit Millionen von Erzeugungsanlagen, die den entsprechenden Umbau der Energienetze erfordern. Auch unsere IT-Infrastrukturen bilden große Transformationsprozesse ab und befinden sich in stetigen Erneuerungsprozessen. Was lässt sich aus solchen dynamischen Prozessen lernen? Welche Auswirkungen haben sie auf Städte und Regionen? Ein Essay von Dr. Jens Libbe, Deutsches Institut für Urbanistik.

Wer auf die Geschichte unserer Netze blickt, erkennt eines sofort ganz deutlich: Sie zeigt, dass ihre Entwicklung durch eine Vielzahl von Rahmenbedingungen geprägt wird – vor allem durch institutionelle, ökologische, räumliche und gesellschaftliche. So wird die Entstehung von neuen Infrastrukturen häufig durch radikale technische Innovationen ausgelöst, wie beispielsweise durch das seit etwa 1989 kommerziell genutzte Internet. Dabei werden nicht nur bestehende technische Systeme, sondern auch die mit ihnen verbundenen Strukturen infrage gestellt. Leitbilder, Regeln, Normen und Routinen ändern sich. 

Erweist sich eine Technologie gegenüber bisherigen Systemen als überlegen (was übrigens nicht zwangsläufig heißt, dass es sich dabei um die denkbar beste Lösung handeln muss), so setzt sie sich in der Breite durch. Verantwortlich hierfür sind vor allem sogenannte Skaleneffekte, die sich durch sinkende Kosten in der Erstellung der Infrastrukturen ergeben. Mit der Zeit bildet sich ein spezifischer Entwicklungspfad heraus, der sich selbst verstärkt und irgendwann als kaum noch veränderbar erscheint – die Zahnpasta kann gewissermaßen nicht mehr in die Tube zurückgedrückt werden.



Dieses Phänomen wird als Pfadabhängigkeit bezeichnet: Weitere Veränderungen treten erst dann wieder ein, wenn sich die Rahmenbedingungen wiederum grundlegend verändern. Das kann durch neue, technisch überlegene Lösungen geschehen, aber auch durch eine abnehmende gesellschaftliche Akzeptanz von Technologien oder wirtschaftliche Effekte wie Sättigungstendenzen oder stark sinkende Nachfrage. Diese Entwicklungen können dazu führen, dass das bestehende Infrastruktursystem gegenüber den veränderten Anforderungen grundlegend angepasst werden muss oder sich sogar radikal transformiert: Eine neue Infrastruktur tritt an die Stelle oder zumindest ergänzend an die Seite des vorhandenen Systems. 

„Ich weiß, dass ich nichts weiß“

Was können wir daraus lernen? Jede Phase von Veränderungen ist durch hochgradige Unsicherheit über die weitere Entwicklung und damit verbundene Suchprozesse über den geeigneten Weg gekennzeichnet. Ein Beispiel ist unser Energiesystem, das geradezu ein Paradebeispiel - sowohl für das Entstehen von Pfadabhängigkeiten als auch für vollzogene Pfadwechsel - ist. Nach Jahrzehnen der Entwicklung bildete sich zum Beginn des 20. Jahrhunderts ein großtechnisches System heraus, das in der Folge trotz mancher Kritik an den wettbewerblichen Strukturen durch eine durch eine bemerkenswerte Stabilität über viele Jahrzehnte gekennzeichnet war. Erschüttert wurde dieses System durch zweierlei: zum einen durch die immer geringere gesellschaftliche Akzeptanz der dominierenden Energieträger Kohle und Kernenergie, zum anderen durch die Liberalisierung des Energiemarktes zum Ende der letzten Jahrtausends. 

Eine ganze Branche erfindet sich neu

Getrieben durch diese Entwicklungen und durch die Marktreife erneuerbarer Energien waren die Grundlagen für eine Energiewende geschaffen, die heute zu grundlegend anderen Netzen und Versorgungsstrukturen führt. In Verbindung mit dem internationalen Ziel, die durchschnittliche Erdtemperatur auf 1,5 Grad vor dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen und die Städte bis allerspätestens 2050 klimaneutral zu machen, steht seit mehr als einem Jahrzehnt das technologische und wirtschaftliche Profil einer ganzen Branche zur Disposition. Zentralisierte großtechnologische Systemstrukturen wandeln sich mehr und mehr in Richtung dezentralerer Lösungen. Daraus resultiert eine enorme Vielfalt an Versorgungsoptionen und Akteuren am Markt.

Daten sind das neue Gold

Ein ganz anderes Beispiel ist die Informations- und Kommunikationstechnologie. Auch hier waren es radikale technische Innovationen in Verbindung mit grundlegenden institutionellen Umbrüchen, die innerhalb von nur zwei Jahrzehnten einen Innovationsprozess in kaum gekanntem Ausmaß ausgelöst haben. Digitale Systeme durchdringen mittlerweile alle gesellschaftlichen Bereiche. Die Entwicklungsdynamik ist exponentiell. Der Innovationsprozess wird u.a. getrieben durch ständig wachsende Anforderungen der Software an Hardwarelösungen (Verarbeitungsgeschwindigkeit, Speicherkapazität, Bandbreite usw.) und ständig neue Potenziale für Softwarelösungen bei neuer Hardware.



Zugleich haben sich ganz neue Wertschöpfungskonzepte herausgebildet, deren primäres Ziel in der Generierung von Daten liegt. Das selbst noch vergleichsweise neue Internet als globale Infrastruktur entwickelte sich vom ursprünglichen „Netz der Netze“, das Personen vernetzt, zum „Netz der Dinge“, das zur Vernetzung von Gegenständen genutzt wird und zum „Netz der Dienste“ mit dem Internet als „Datenwolke“.

Stadt, Land, Raum

Kann die Dynamik solcher Entwicklungen auch unsere räumlichen Strukturen verändern? Sie ist schon dabei: Denn mit der Infrastruktur entwickeln sich auch unsere Städte und Regionen weiter. Technologien und Raum beeinflussen sich wechselseitig. Im Energiebereich führt die Dezentralisierung und Regionalisierung heute zu gestiegenen Raumansprüchen für die Energieproduktion. Diese zeigen sich in der Fläche in Form von Solar- oder Windenergieparks, im urbanen Raum in Form gebäudebezogener Versorgungslösungen bis hin zum Plusenergie-Gebäude.

Die Herausforderung besteht darin, kompakte und flächensparsame Stadtstrukturen in Einklang mit der Nutzung erneuerbarer Energien und Maßnahmen der Klimaanpassung zu bringen. Im Bereich der Informationstechnik geht es zuallererst um den Abbau des bestehenden Gefälles zwischen Stadt und Land beim Netzbaubau und damit die flächendeckende Sicherstellung schneller und leistungsfähiger Datenübertragung. Und die Corona-Pandemie hat vor dem Hintergrund vermehrter Homeoffice-Relevanz eine ganz neue Diskussion über Abschwächung der Urbanisierung und Attraktivität ländlicher Räume als Wohn- und Arbeitsort gestartet.



Sicher ist, dass die Digitalisierung klassische Funktionstrennungen von Wohnen und Arbeit zunehmend aufhebt. In der Pandemie hat sich gezeigt, dass insbesondere die tagtäglichen Pendlerströme abnehmen könnten. Eine gute Nachricht: Denn das erhöht auf Dauer die Lebensqualität in den Städten wie auf dem Land.

Jens Libbe

Der promovierte Volkswirt und Sozialökonom Jens Libbe leitet beim Deutschen Institut für Urbanistik den Forschungsbereich „Infrastruktur, Wirtschaft und Finanzen“. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL) sowie Netzwerkpartner der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL). Regelmäßig wirkt er in Beiräten, Förderausschüssen und Jurys mit und gibt Vorlesungen an Universitäten und Hochschulen.

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