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Stromversorgung: Sicher durch Prognosen und Kooperationen

Die Corona-Krise zeigt, wie verwundbar komplexe Systeme heute sind. Was tut die Energiebranche für eine stabile Stromversorgung?
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© Foto: Adobe Stock

Die Nacht vom 4. auf den 5. November 2006 hat sich Energieversorgern und Verteilnetzbetreibern tief ins Gedächtnis eingebrannt. Ein in der Papenburger Meyer Werft gebautes Kreuzfahrtschiff sollte über die Ems ins niederländische Eemshaven überführt werden. Sechs Wochen zuvor hatte die Werft die Abschaltung der 380-kV-Leitung Conneforde–Diele beantragt, die die Ems überquert; der Abstand zwischen der Leitung und den Schiffsaufbauten war zu gering für eine gefahrlose Überführung des Schiffs. Kurz vor der geplanten Abfahrt bat die Werft um eine Vor­ver­legung des Termins um einige Stunden. Weil sich das Ganze nachts abspielte, ging der Energieversorger davon aus, dass sich in der Zeit zwischen der Berechnung und der Schaltung die Netzbelastung nicht dramatisch ändern werde. Doch der kräftig blasende Wind in Verbindung mit Missverständnissen zwischen Energieversorgern und Übertragungsnetzbetreibern machte den Beteiligten einen Strich durch die Rechnung. 

Die verbliebenen Leitungen wurden überlastet und schalteten sich ab. Eine Kettenreaktion setzte ein. Im Ergebnis waren europaweit rund zehn Millionen Menschen ohne Strom. Die Vereinigung europäischer Übertragungsnetzbetreiber UCTE ­bezeichnete den Vorfall in ihrem Abschlussbericht als "eine der ernstesten und größten Stö­rungen, die jemals in Europa aufgetreten sind". Klaus Lucas ist emeritierter Professor der RWTH Aachen und Fellow am Institute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam. Er hat umfangreich auf dem Gebiet der systemischen Risiken geforscht und sagt: "Der Blackout von 2006 ist das Paradebeispiel eines systemischen Risikos. Wie bei einer Virusepidemie kann sich ein zufälliges schädliches Ereignis in einem komplexen System fortpflanzen und auf unvorhersehbare Weise Strukturen lahmlegen." Immer dann, wenn die Vernetzung der Elemente einen gewissen Schwellenwert überschreite, steige das Risiko, dass Systeme instabil werden – das gelte nicht nur in der Energiewirtschaft, sondern auch in anderen Branchen und Bereichen. 

Der Schreck saß tief, die Verantwortlichen setzten sich zügig an einen Tisch: Bereits sechs Monate später unterzeichneten die Regierungen Deutschlands, Frankreichs und der Benelux-Staaten sowie die beteiligten Übertragungsnetzbetreiber, Strombörsen, Regulierungs-behörden und Marktteilnehmer ein Memorandum of Understanding: Es zielte darauf ab, eine Marktkopplung zwischen den Strommärkten Zentralwesteuropas einzuführen und die Koordinierung zwischen den Beteiligten zu verbessern, um die Versorgungssicherheit in Europa zu gewährleisten.

Neue Netzstrukturen für Europa

Die Anforderungen an die Stromnetze wachsen permanent. Auf der einen Seite werden die Erzeugungskapazitäten der erneuerbaren Energieträger immer volatiler, auf der anderen Seite sorgt der grenzüberschreitende und effizienzfixierte Strommarkt für sich laufend ändernde Bedarfe an Erzeugungskapazitäten. Alle Akteure sind miteinander vernetzt – und je stärker die Vernetzung ist, desto höher wird die Anfälligkeit des digitalen Netzes für unerwünschte Domino- oder Rückkopplungseffekte. Um der steigenden Anforderungen Herr zu werden, hat die EU-Kommission im Jahr 2017 in der Verordnung 2017/1485 klare Leitlinien für den Übertragungsnetzbetrieb herausgegeben. Ziel der Verordnung ist es, die Betriebssicherheit des Stromverbundsystems sicherzustellen: durch das Festlegen gemeinsamer Bestimmungen mit Mindestanforderungen für den unionsweiten Netzbetrieb und eine grenzübergreifende Zusammenarbeit zwischen den Übertragungsnetzbetreibern. 


Kraftwerk


Hierzu wurde die Rolle der Sicherheitskoordinatoren geschaffen, von denen es in Europa fünf gibt. Sie stehen im Dienst der jeweiligen Übertragungsnetz­betreiber ihres Zuständigkeitsgebiets. Das Münchner Büro des Unternehmens TSCNET Services deckt Zentral- und Osteuropa ab. Coreso in Brüssel übernimmt diese Aufgabe für die Gebiete Frankreich, Belgien, Groß­britannien, Nordirland, Italien, Spanien und Portugal. Der Baltic RSC in Tallinn überwacht Estland, Lettland und Litauen, das Nordic RSC mit Sitz in Kopenhagen ist für die skandinavischen Länder zuständig und SCC in Belgrad hat ein Auge auf die südosteuropäischen Länder.

Planen, überwachen, koordinieren

Die Arbeit der Sicherheitskoordinatoren ­gliedert sich zum einen in die Prognose und zum anderen in konkrete Handlungsempfehlungen bei der Planung und Umsetzung von Maßnahmen zur Gewährleistung der Netz­sicherheit. Auf der Basis von zu erwartenden Erzeugungskapazitäten und Marktnachfragen prognostizieren die ­Koordinatoren für den Folgetag mit regionalem Blick die Auslastung der Leitungen und ermitteln, inwiefern einzelne überlastet sind. Dabei geht es auch um ganz profane Dinge: Wenn Hochspannungsleitungen zu warm werden, dehnen sich die Leiterseile aus und können durchhängen oder beschädigt werden. Uwe Zimmermann, Geschäftsführer der Mün­chner TSCNET Services, vergleicht die Arbeit der Sicherheitskoordinatoren mit der eines Navigationssystems: "Wir betrachten laufend den Verkehr – also den Betriebszustand der Netze, die laufenden Kapazitäten, Verbräuche und Marktdaten – und ermitteln proaktiv, an welchen Stellen sich ein Stau entwickeln könnte. Wann immer wir ­einen solchen Stau prognostizieren, ­erstellen wir in Abstimmung mit den Übertragungsnetzbetreibern rechtzeitig Empfehlungen, analog einer alter­na­tiven Route, wie der Verkehr umgeleitet werden kann." Die Verantwortung für die Umsetzung dieser Empfehlungen liegt jedoch weiterhin bei den Übertragungsnetzbetreibern.

Energiewende als Herausforderung

Der Rückbau der konventionellen Strom­erzeugung ist politisch gewollt, doch er stellt das System auch vor Herausforderungen: Die Anzahl und die Volatilität der Erzeuger nehmen zu, durch den Abbau des konven­tio­nellen Erzeugungsparks werden die Transportentfernungen für Strom größer. Zudem fordert der paneuropäische Markt immer mehr Flexibilisierung und Effizienz. Uwe Zimmermann: "Dadurch könnten unsere Vorlaufzeiten zunehmend kürzer werden und es würde dann immer herausfordernder, den Folgetag zu prognostizieren und rechtzeitig Maßnahmen einzuleiten. Glücklicherweise können wir darauf aber reagieren. Wir stellen uns darauf ein, unsere Prozesszyklen ­immer mehr zu beschleunigen und immer größere Mengen an Daten zu verarbeiten, um auch weiterhin zuverlässige Prognosen zu gewährleisten." 

Es gibt jedoch auch Stimmen, die den Wettlauf zwischen Big Data und Effizienz kritisch betrachten und empfehlen, das System auf andere Art und Weise zu entlasten – nämlich durch Reserven und Sicherheitspolster. Klaus Lucas: "In ländlichen Regionen sehe ich eine lokal-dezentrale Stromerzeugung durch Biomasse, Sonne und Wind unkritisch. Aber in den großen Ballungsräumen und Industriestandorten muss man sich überlegen, ob man im Interesse der Versorgungssicherheit nicht doch lieber, zumindest im Grundlastbereich, an zentralen Erzeugungskapazitäten festhält, in hocheffizienter Form mit Erdgas als Energieträger und Gas-und-Dampf-Heizkraftwerken in Kombination mit elektrischen Wärmepumpen und Wärmenetzen."

Fakt ist, dass es seit 2006 keinen vergleichbaren Stromausfall mehr in Europa gegeben hat. Offenbar zahlt sich das Zusammenrücken aller Beteiligten aus. Immerhin das ist der Vorteil einer Krise: Man kann daraus lernen. 

Text: Jochen Reinecke


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