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"Müssen bekennen, dass Deutschland Energieimportregion bleiben wird."

Christian Kullmann, Vorstandsvorsitzender Evonik Industries, im Interview zur Integration von erneuerbaren Energien in die Geschäftsstrategie.

Chemie-Fabrik vor blauem Himmel

© 06photo / Shutterstock

Fazit Fortschrittsmonitor 2024: Die Stromnetze müssen auch in den kommenden Jahren für eine dezentrale Stromerzeugung, die Elektrifizierung anderer Sektoren und um mittelfristig den Redispatchbedarf und damit die Redispatchkosten zu senken, ausgebaut werden. Netzausbau, Nutzung von Flexibilitäten und Engpassmanagement müssen gesamtwirtschaftlich optimiert werden.

Die Digitalisierung der Netze wird dadurch eine zentrale Aufgabe für Netzbetreiber. Nur durch Modernisierung können Flexibilitäten systemdienlich genutzt werden. Sowohl die Ausbaugeschwindigkeit als auch Modernisierung und Digitalisierung der Stromnetze müssen auf allen Ebenen noch steigen, um die gesetzten Ziele zu erreichen.


Christian Kullmann, welche Aspekte der Energiewende sind – bezüglich Strom aus erneuerbaren Quellen – für die chemische Industrie besonders relevant?
Wenn wir den Kampf gegen die globale Erderwärmung gewinnen wollen, muss die chemische Industrie letztlich ohne fossile Energieträger auskommen. Die Elektrifizierung von Produktionsprozessen und der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft sind Teil der Lösung. Dafür braucht es aber erhebliche Mengen an Strom aus erneuerbaren Quellen. Aufgrund unserer hochkomplexen Produktionsprozesse benötigen wir zudem ein Höchstmaß an Versorgungssicherheit.

Derzeit sind wir als Branche durch die Transformation herausgefordert und stehen zugleich mitten in einem internationalen Verdrängungswettbewerb mit Regionen, die den Wert einer leistungsstarken Chemieindustrie erkannt haben und denen im Zweifelsfall mehr Wind und Sonne zur Energiegewinnung zur Verfügung stehen.

Die Chemiebranche in Deutschland braucht also alles gleichzeitig: planbare, große Mengen an kostengünstigem grünen Strom und eine hohe Verfügbarkeit, um am Standort Deutschland wettbewerbsfähig zu sein.

Wie integriert Evonik Erneuerbare Energien in seine Geschäftsstrategie, bezogen auf die globale Präsenz und auf den Standort Deutschland?
Chemie ist der wichtigste Wirkstoff für die Energietransformation. Unser Produktportfolio bringt die Energiewende klar voran. Allein mit elf Produkten trägt Evonik dazu bei, dass Windräder ein Leben lang halten. Mit Membrantechnologie und Hochleistungskunststoffen können wir Wasserstoffproduktion und -transport kostengünstiger machen. Das sind unsere nachhaltigen Next Generation Solutions, wie wir sie nennen. Heute erzielen wir damit mehr als 43 % unseres Umsatzes. Bis 2030 sollen es bereits mehr als 50 % sein.

Evonik betreibt weltweit Produktionsanlagen. Bis 2030 werden wir unseren extern bezogenen Strom zu 100 % aus erneuerbaren Quellen beziehen. Zur Umsetzung dieses Ziels gibt es für die verschiedenen Regionen spezifische Fahrpläne. Schon heute beträgt der extern bezogene Grünstromanteil rund 35 %. Mehr als 50 unserer Standorte in Europa, Asien, Nord- und Südamerika beziehen oder erzeugen schon nachhaltige Energien. Wir sind ganz klar Teil der Energiewende und beteiligen uns am Ausbau der Erneuerbaren Energien. Kürzlich haben wir PPAs (Power Purchase Agreements) für Offshore-Wind und PV in Deutschland abgeschlossen.

So werden wir unsere Grünstromquote zeitnah auf deutlich über 50 % erhöhen. In den übrigen Regionen sind wir teils bereits in aktiven Verhandlungen für PPAs, teils werden wir in Verhandlungen einsteigen, sobald die jeweiligen Märkte dafür reif sind. Unseren Erwartungen nach wird das in den Weltregionen, in denen wir unterwegs sind, in den nächsten Jahren der Fall sein.

Welche Partnerschaften und Kooperationen sind für Evonik im Hinblick auf die Versorgung mit erneuerbarem Strom relevant?
Bei der Versorgung mit Grünstrom – und perspektivisch auch mit anderen Energiearten aus erneuerbaren Quellen – setzen wir auf Partnerschaften mit Investoren und Betreibern von Grünstromanlagen. Hierbei bevorzugen wir Projekte, bei denen unsere Abnahmeverpflichtung die Finanzierung und den Bau neuer Anlagen ermöglicht. Unser Engagement spielt also eine entscheidende Rolle. In eigene Anlagen zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Quellen wird Evonik nur im Ausnahmefall investieren. Wir konzentrieren uns ganz auf das, was wir besonders gut können: die Spezialchemie.

Bis 2030 wollen wir mehr als 3 Mrd. Euro in Next Generation Solutions investieren, also in jene Produkte mit überlegenem Nachhaltigkeitsnutzen. Weitere 700 Mio. Euro gehen in den Bereich Next Generation Technologies, also die Weiterentwicklung von Produktionsprozessen und Infrastruktur zur Einsparung von CO2-Emissionen.

Welche sind die größten Herausforderungen, die Evonik bei der Integration Erneuerbarer Energien in seine Betriebsabläufe sieht, und wie geht das Unternehmen diese Herausforderungen an?
Evonik hat mit einer eigenen Energiehandelsinfrastruktur hohe Kompetenzen aufgebaut und ist prinzipiell in der Lage, die volatile Stromerzeugung aus Wind und Sonne im Zusammenspiel mit der Flexibilität unserer eigenen Erzeugungs- und Verbrauchsanlagen zu managen und auszugleichen. Diese auch von der Politik gewünschte Flexibilität insbesondere auf Verbrauchsseite kontinuierlich auszubauen, bleibt technisch und wirtschaftlich eine Herausforderung.

Noch sind wir dabei, die Stromwende zu meistern, aber mittelfristig muss ja auch die Wärmeerzeugung auf grüne Energien umgestellt werden. Da Biomasse langfristig nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen wird, muss dies voraussichtlich über eine Elektrifizierung der Wärmeversorgung oder über treibhausneutralen Wasserstoff erfolgen, denn für Hochtemperaturprozesse gibt es noch keine Lösung von der Stange. Die hierfür benötigten Mengen insbesondere an grünem Wasserstoff werden allerdings erst in den 2030er-Jahren zur Verfügung stehen. Ob dieser dann bezahlbar ist, ist noch nicht seriös abschätzbar.

Wie sehen Sie die Zukunft der Erneuerbaren Energien in Deutschland und was sollte zusätzlich passieren, um ein günstiges Umfeld für deren Wachstum und für eine nachhaltige, in Deutschland ansässige chemische Produktion zu gestalten?
Erforderlich ist zunächst eine ideologiefreie Bestandsaufnahme. Wir müssen ehrlich bekennen, dass Deutschland auch langfristig Energieimportregion bleiben wird. Also brauchen wir eine darauf ausgerichtete Energieaußenpolitik und eine diversifizierte Importstrategie. Die Erneuerbaren in Deutschland benötigen für sonnen- und windschwache Stunden ein verlässliches Backup. Ohne CO2-Abtrennung (CCS) und idealerweise Wiederverwertung (CCU) wird es für viele Prozesse nicht gehen.



Neuen Technologien gegenüber dürfen wir uns nicht verschließen. Erste Hoffnungen in diese Richtung machen uns die angekündigte Carbon-Management-Strategie und die neue Kraftwerksstrategie der Bundesregierung. Beim Netzausbau müssen wir viel schneller werden, denn der schönste Grünstrom oder treibhausgasarmer Wasserstoff nutzen uns nichts, wenn diese leitungsgebundenen Energien nicht zu unseren Standorten gelangen.

Wir brauchen eine verlässliche Regulatorik, die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren – übrigens gerne auch für Anlagen der Chemie – und tragfähige Konzepte zur Finanzierung der Transformation. Über allem stehen Kosteneffizienz und Minimierung jeder staatlichen und regulatorischen Belastung. Noch sind uns die Ideen für Innovation und Fortschritt, mit denen die Chemie im Wettbewerb der Regionen bestehen kann, glücklicherweise nicht ausgegangen. Wir brauchen aber Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren Energien.

Christian Kullmann, vielen Dank für das Gespräch.


Christian Kullmann

studierte Wirtschaftsgeschichte an der Universität Hannover und begann seine berufliche Laufbahn bei der Deutschen Vermögensberatung AG. Danach wechselte er zur Dresdner Bank, bevor er schließlich eine Karriere bei Evonik Industries AG einschlug, wo er nun als Vorstandsvorsitzender fungiert.

 


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