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"Kommunale Wärmeplanung kein Allheilmittel zur Lösung aller Probleme."

Jens Balcerek, Geschäftsführer der Stadtwerke Reutlingen, im Interview über die Herausforderungen der kommunalen Wärmeplanung.

Reutlingen Marktplatz

© Sergey Dzyuba / Shutterstock

Fazit Fortschrittsmonitor 2024: Im Wärmesektor haben sich im Vergleich zu den Vorjahren die gesetzlichen Rahmenbedingungen für mehr EE merklich verbessert. Anpassungen an der Bundesförderung für effiziente Gebäude (BEG) und am Gebäudeenergiegesetz (GEG) setzen deutliche Anreize für den Einsatz Erneuerbarer Energien und die Steigerung der Energieeffizienz. Dennoch bestehen weiterhin einige Restriktionen bei der Erschließung von Fernwärmequellen auf gesetzlicher Ebene, etwa durch die Wärmelieferverordnung oder auch das noch ausstehende Geothermie-Erschließungsgesetz.

Die Diskussion um das GEG im Sommer 2023 hat zu vielen Unsicherheiten und infolgedessen zu vorgezogenen Investitionen in Gaslösungen geführt. Dadurch sind für 2024 weniger Heizungsmodernisierungen zu erwarten. Hinzu kommen Engpässe aufgrund von Fachkräftemangel, die eine weitere Verzögerung des Wärmepumpenausbaus verursachen werden. Allerdings kann auch in den kommenden Jahren ein steigender Anteil an Wärmepumpen erwartet werden.


Jens Balcerek, was sind die größten Erfolgsfaktoren bei der Herleitung bzw. Erstellung eines Zielbildes im Rahmen der kommunalen Wärmeplanung für Reutlingen?
Die Grundlage für die Wärmeplanung ist zunächst eine sorgfältige Aufbereitung der vorhandenen Fakten. Es ist wichtig, die Wärmedichten sowie bauliche und topografische Einschränkungen zu kennen. Meistens fängt man dabei nicht bei null an: Vielleicht hat man bereits vorhandene Daten aus einem Solarkataster oder einer früheren Wärmestudie. Auch Daten zu Bestandsgebäuden haben oft noch eine hohe Validität. Diese Daten sollte man zunächst zusammentragen.

Was in Reutlingen zudem ganz bewusst gemacht wurde, ist, die kommunale Wärmeplanung mit externer Unterstützung aufzustellen. Das hat uns geholfen, Themen, die für uns aus der Erfahrung vor Ort selbstverständlich sind, noch mal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und einige Implikationen nicht zu übersehen.

Was außerdem selbstverständlich erscheint, in der Praxis allerdings oftmals doch unterschätzt wird, ist, ausreichend Ressourcen zur Bearbeitung des Themas bereitzustellen. Eine kommunale Wärmeplanung stellt man nicht nebenbei auf. Es hilft daher, für das Projekt gezielt die passenden Ressourcen zu allokieren. Ansonsten besteht die Gefahr, dass das Thema zu einer never ending story wird.

Wichtig ist natürlich auch, die kommunale Wärmeplanung mit einem ggf. vorhandenen Transformationsplan der Fernwärme sorgfältig abzustimmen. Hier sollte es keine Widersprüche geben. Und wenn man schließlich so weit gekommen ist, sollte man sich die Zeit nehmen und einmal reflektieren, welche Implikationen das Ganze hat: Welche Anforderungen an technische, zeitliche und finanzielle Ressourcen ergeben sich für die Zukunft aus der Planung? Welche Bedeutung hat die Wärme- auf die Genehmigungsplanung? Man sollte sich von dem Gedanken trennen, dass die kommunale Wärmeplanung das Allheilmittel zur Lösung aller Probleme ist. Es ist eher so, dass sie eine gemeinsame Zielvorstellung festlegt. Danach kann dann die eigentliche Arbeit, die Umsetzung, beginnen.

Inwiefern hat Ihnen die kommunale Wärmeplanung geholfen, um mit Ihren Stakeholdern in Ihrer Region in eine strategische Diskussion zu gehen?
Die kommunale Wärmeplanung hat dazu beigetragen, dass die Wärmewende nicht mehr nur als Aufgabe der Stadt gesehen wird, sondern als gemeinsame Aufgabe von Stadt, Versorger und auch Handwerkern. Die Beteiligten haben erkannt, dass sie eine Rolle dabei spielen und zusammenarbeiten müssen.

Welche Ratschläge und Tipps können Sie anderen Stadtwerken und Unternehmen in Bezug auf die kommunale Wärmeplanung mitgeben?
Wir haben in Reutlingen einen digitalen Zwilling des Netzplans der Stadt, den wir für die Wärmeplanung genutzt haben. Darin hatten wir bereits GIS-Verbrauchsdaten aus älteren Wärmestudien. Es hat uns als Energieversorger sehr geholfen, dass wir damit bereits eine ziemlich gute Einschätzung hatten, wo welche Energieverbräuche auftreten und welche Medien vorhanden sind. Darauf haben wir unser Zielbild und unsere technischen Überlegungen gestützt.

Das ist aus meiner Sicht etwas, was man sich in diesem Projekt definitiv mit vornehmen kann und sollte, gerade auch bezüglich der Frage, an welcher Stelle Erneuerbare integriert werden sollen und welche Implikationen etwa Photovoltaikanlagen oder Wärmepumpen für die Netzlast haben. Mit einem digitalen Zwilling bekommt man sehr schnell die „Ausrufezeichen“ aufgezeigt, an welchen Stellen man genauer hinschauen muss.

Was sind aus Ihrer Sicht vielversprechende Maßnahmen Ihrer aktuellen Planung, um die Ziele für 2030 in Reutlingen zu erreichen, und welche Rolle spielt die Kraft-Wärme-Kopplung in Ihren Plänen?
Ganz konkret prüfen wir gerade die Nutzung von Abwasserwärme mittels Großwärmepumpen, die wir ins Fernwärmenetz einspeisen könnten. Wir gehen davon aus, dass wir damit etwa 60 % unseres aktuellen Wärmebedarfs decken könnten. Wir möchten einen Großwärmespeicher errichten, um unsere Kraftwerke zu flexibilisieren. Außerdem prüfen wir den Einsatz von nachhaltiger Biomasse und die Errichtung regenerativer Nahwärmenetze. Es gibt in Reutlingen einige Gebiete, die so weit entfernt liegen, dass Fernwärme für sie nicht infrage kommt. Dort wären Nahwärmenetze eine gute Lösung. Auch oberflächennahe Geothermie wird verstärkt nachgefragt werden.

Was die Kraft-Wärme-Kopplung angeht, glauben wir, dass diese auch über das Jahr 2030 hinaus eine große Rolle spielen, ihr Anteil im Gesamtmix aber sinken wird. Wir haben beispielsweise derzeit sieben BHKWs im Einsatz. Ab 2025 möchten wir davon noch fünf in Betrieb haben und auf H2-ready umrüsten. Momentan bedienen unsere BHKWs noch die Grundlast. Zukünftig werden sie in eine netzdienlichere Fahrweise übergehen und eher Mittel- oder Spitzenlast bedienen.

Welche konkreten Digitalisierungsmaßnahmen sind aus Ihrer Sicht wichtig, um die Transformation bis 2030 zu meistern bzw. voranzutreiben?
Zunächst kann ich nur noch einmal für die Erstellung eines digitalen Zwillings der Netze in der Kommune werben, mit dem man verschiedene Szenarien, etwa in der Bebauung, analysieren und Implikationen für das Netz ableiten kann. Für uns ist das der erste Schritt und wir hoffen, dass er uns in Zukunft auch dabei helfen kann, Betriebskosten zu optimieren und Emissionen zu reduzieren. Bei diesen Themen sind wir aber noch in der Erarbeitung.

Ein Thema, das wir darüber hinaus vertiefen möchten, ist die Optimierung der Kraftwerksfahrweise und ihre Verkoppelung mit kurzfristigen Preisen bzw. Inputpreisen. Das Thema wird umso wichtiger, wenn wir einen Wärmespeicher und H2-fähige BHKWs installiert haben. Und natürlich sind auch die präventive Instandhaltung und die intelligente Netzsteuerung ein wichtiges Thema, das auch von der Bundesnetzagentur immer mehr forciert wird, um eine bessere Ressourcenallokation zu erreichen.

Bis 2030 soll die Hälfte der Wärme klimaneutral erzeugt werden. Der Fernwärme wird damit eine besondere Bedeutung zugesprochen. Jährlich sollen mindestens 100.000 Gebäude neu ans Fernwärmenetz angeschlossen werden. Bis 2045 soll sich die Anzahl der angeschlossenen Gebäude in Deutschland gegenüber heute verdreifachen.

Welche Strategien verfolgen Sie, um eine hohe Anzahl mit Fernwärme versorgter Gebäude zu erreichen, und welcher Best-Practice-Ansatz ist aus Ihrer Sicht besonders vielversprechend?
Zunächst ist wichtig, dass man ein gemeinsames Zielbild hat, auf das man hinarbeiten kann. Im nächsten Schritt versuchen wir, Ankerkunden zu gewinnen, die große Wärmeverbräuche haben, damit man erst einmal eine Zielleitung hat. Anschließend kann man dann schrittweise das Netz verdichten. Trotzdem muss man auch ganz klar sagen, 100.000 Gebäude pro Jahr anschließen ist eine große Herausforderung. Was das allein für die Genehmigungsplanung bedeutet – das ist schon sehr ambitioniert. Und natürlich muss man auch sagen, dass derzeit so viele Gasheizungen eingebaut werden wie lange nicht mehr. Das ist eher ein Hemmnis gegenüber dem Fernwärmeausbau. Umso wichtiger in dem Kontext ist die frühzeitige und aktive Kommunikation nach außen. Wir haben uns schon vor der Erarbeitung der kommunalen Wärmeplanung überlegt, welche Maßnahmen aus technischer und auch aus kaufmännischer Perspektive bei uns möglich wären, uns also früh ein eigenes Zielbild erarbeitet. Das haben wir dann in die Diskussion mit eingebracht und konnten sie so besser steuern.

Was sind die Erfolgsfaktoren für die Erreichung des Ziels und welche Rolle spielt ein stärkeres Zusammenspiel mit Stakeholdern und Kunden?
Der wichtigste Punkt ist zunächst die Finanzierung. Es gibt vielleicht ein paar Ankerkunden, aber egal, was Sie tun möchten: Am Anfang stehen hohe Investitionen ohne einen Cashflow, der sofort zurückfließt. Das heißt, der Ausbau der Fernwärme ist zunächst eine Investition in die Zukunft. Daher bin ich sehr froh, dass unsere Gesellschafter, dies ebenso sehen und bereits Mittel in die Gesellschaft eingelegt haben. Das reicht nicht aus, um alle Herausforderungen stemmen zu können, ist aber der richtige Weg. Wenn Sie nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um überhaupt etwas planen zu können, kann der ganze Rest nicht folgen. Am Anfang steht immer die Wirtschaftlichkeit. Es wurde jetzt ja auch groß in der Zeitung für kommunale Wirtschaft (ZfK) angekündigt, Herr Habeck ist Fernwärme-Fan. Das ist natürlich gut, aber wenn die Fernwärme nicht wirtschaftlich ist und keine Rendite erwirtschaftet, dann wird es kein Kapital und keine Investoren geben. Erst danach kann man überhaupt über Dinge wie Mitarbeiter:innen- und Kundenakquise, Fachkräftemangel oder Lieferkettenproblematiken nachdenken. Eine Rendite und damit eine gesicherte Finanzierung stehen am Anfang.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist dann auch wieder die Kommunikation mit unseren Kunden. Da geht zunächst viel um Aufklärung. Man muss erst einmal klar machen, dass der Ausbau der Fernwärme ein auf Jahre angelegtes Projekt ist. Wenn beim Kunden eine Heizung langsam kaputt geht, können wir ihm nicht sagen: Kein Problem, in einem halben Jahr liegt bei Ihnen sowieso Fernwärme. Die Planung wirkt vielleicht im ersten Moment recht abstrakt, daher ist Kommunikation so wichtig. Und gleichzeitig haben wir, die ganze Branche, hier auch selbst noch einiges zu tun. Die Frage ist ja, wie man sicherstellen kann, dass das angestrebte Ziel auch wirklich erreicht wird. Wenn jeder macht, was er will, wird das schwierig. Gleichzeitig legen wir viel Wert auf die Wahlfreiheit auf Kundenseite. Es kann also nur über Überzeugung und vernünftige Planung gehen. Die Argumente liegen dabei auf unserer Seite, ich kenne jedenfalls keinen Kunden, der mit Fernwärme unglücklich ist. Die Vorteile auf Kundenseite – weniger Investitionen, weniger Wartung, keine extra Fläche, die benötigt wird – überwiegen genauso wie auf Erzeugerseite. Nur bei der Fernwärme kann ich den Erzeugungsmix über Jahre hinaus sukzessive dekarbonisieren. Daher halte ich die Fernwärme in Ballungszentren für alternativlos.

Jens Balcerek, vielen Dank für das Gespräch.


Jens Balcerek

ist seit Oktober 2017 Geschäftsführer der Stadtwerke Reutlingen und der Stadtwerke-Tochter Fair Energie GmbH und Vorstand der Kraftwerke Kirchentellinsfurt AG.

 

 

 


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